■ Freispruch für Polizisten: Undeutsche Lässigkeit
Der gebeutelten Polizistenseele wird der gestrige Freispruch Balsam sein – dem Opfer und seinen vietnamesischen Landsleuten wird er bittere Nahrung für weiteres Mißtrauen gegenüber deutscher Staatsmacht liefern. Doch für beide Zwecke eignet sich das Urteil nicht, das gestern wegen des Vorwurfs eines polizeilichen Übergriffs auf einen Vietnamesen erging. Nach all dem, was die Beweisaufnahme in dem viertägigen „Pilotverfahren“ erbrachte, kann man so urteilen, wie der Richter es tat. Man kann aber auch anders. Vor allem kann und muß man eines: man muß ein solches Verfahren anders führen. Wer über Polizisten wegen eines Amtsdeliktes zu Gericht sitzt, darf sich bei seiner Beweiserhebung nicht allein auf polizeiliche Ermittlungen verlassen. Er muß, mehr noch als in anderen Verfahren, eigenständige Aufklärung betreiben. Und wer dazu noch mit ausländischen Opfern und Zeugen zu tun hat, die aus gutem Grund Angst vor Polizei und Justiz haben, kann auch nicht so tun, als sei das deutsche Rechtssystem weltweit internalisierter Katechismus. Wie soll ein Zeuge Menschen auseinanderhalten, in dessen Augen sich alle Europäer so ähnlich sehen wie in unseren Augen alle Asiaten? Wie soll ein Opfer Zeugen auftreiben, wenn den deutschen Behörden allein schon die vietnamesischen Vornamen ein schier unergründliches Mysterium sind, an dem die Zeugenladung letztlich scheitert? All diese Fragen hätten sich Gericht und Ermittler stellen müssen, bevor sie dieses erste Verfahren eröffneten. Hätten sie nicht mit eurozentristischer Selbstgefälligkeit einen Prozeß „as ususal“ geführt und hätten sie nicht mit gänzlich un- deutscher Lässigkeit sparsam ermittelt, das gestrige Urteil hätte genausogut „schuldig“ lauten können. Vera Gaserow
Siehe auch Bericht Seite 2
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