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Winterreise

Das musikalische Krisenmanagement der FDP  ■ Von Rüdiger Kind

Leise rieselt der Schnee. Unter einer dicken weißen Winterdecke begraben liegt das Bonner Regierungsviertel. Jetzt ist hier die schönste Zeit des Jahres: Verwaist liegt der Bundestag, der weihnachtliche Staub legt sich auf Aktendeckel, Klarsichthüllen und Überhangmandate, nur der „Lange Eugen“ reckt sein stolzes Haupt in den funkelnden Weihnachtshimmel. Doch die Ruhe trügt: Wenn das deutsche Volk unter duftenden Tannenzweigen seine wunderhübsch verpackten Wahlgeschenke auspackt, wenn die stille, die heilige Nacht sich auf unseren kollektiven Freizeitpark Deutschland herniedersenkt, wenn der mündige Bürger Las Palmas zum Stern des Südens werden läßt oder karibische Elendsquartiere ins Visier seines Camcorders nimmt, bricht die krisengeschüttelte FDP zu neuen Ufern auf ...

Nein, die Reise geht diesmal nicht in die Fünf-Sterne-Hotels zwischen Kitzbühel und Kapstadt, sondern ins Innere freidemokratischer Befindlichkeiten. Wie aus dem Thomas-Dehler-Haus verlautet, hat sich die Parteispitze über die Feiertage eine Selbsterfahrungsklausur verordnet, um die Unverzichtbarkeit liberaler Politik wieder neu „spüren“ zu lernen. Und was wäre für die traditionell sangesfrohe FDP naheliegender als ein „In-sich-gehen“ auf den Spuren von Franz Schuberts „Winterreise“? Unser Mitarbeiter wohnte eher zufällig der Generalprobe für diesen weihnachtlichen Liederabend bei – hier sein kurzer Stimmungsbericht:

Der Vortrag von Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ geriet der liberalen Parteispitze zu einem tiefes Mitgefühl hervorrufenden Kunstereignis, dies um so mehr, als in Klaus Kinkel ein ausdrucksstarker Baßbariton zur Verfügung stand, der von Otto Graf Lambsdorff am rechten Flügel gewohnt stilsicher und in vollendeter Werktreue begleitet wurde. Schuberts 24 Lieder, von denen nicht weniger als 16 in Moll stehen, die für uns Züge von fast hysterischer Empfindsamkeit streifen und die nicht selten in den pathologischen Bereich vordringen, deren Hauptinhalt verschmähte Liebe, Trennung, Flucht und Tränen sind, waren gewiß der richtige künstlerische Rahmen für die Selbstbesinnung der Partei in Zeiten schwerster politischer Turbulenzen.

Ein glänzend disponierter Klaus Kinkel sang die „Winterreise“ in einer gut verständlichen Artikulation, wußte auch in schwierigen Passagen den rechten Ton zu treffen und linderte die andauernde Düsternis der Schubertschen Lieder (und der freidemokratischen Gesamtverfassung) mit dem ihm eigenen schmelzend-schwäbelnden Vortrag, der sich durchaus fürs Konzertpodium eignet. Sehr schön begann er die musikalische Winterreise mit tiefgefühlter Wehmut angesichts schwierigster Koalitionsverhandlungen und allgemein trüber Aussichten:

Das Mädchen sprach von Liebe,

Der Kanzler gar von Eh' –

Nun ist die Welt so trübe,

Der Weg gehüllt in Schnee.

Unschwer zu erkennen, daß hier frische Wunden besungen werden, eine äußerst ungewisse politische Zukunft angedeutet wird:

Bin gewohnt das Irregehen,

's führt ja jeder Weg zum Ziel;

Unsre Freuden, unsre Wehen,

Alles eines Irrlichts Spiel!

Mit der Zeile „Ach, wer wie ich, so elend ist, gibt gern sich hin der bunten List“ schien Kinkel selbst eine Ampelkoalition für die Zukunft nicht mehr ganz ausschließen zu wollen – ein Ansinnen, das vom Publikum mit verhaltenem Beifall quittiert wurde.

Nach ihm trat Ex-Bauministerin Irmgard Schwaetzer aufs Podium, um ihren tiefen Sturz in den Keller des Schürmannbaus nun auch musikalisch aufzuarbeiten. Von der Dynamik und Intensität des Ausdrucks her waren gute Ansatzpunkte vorhanden. Daß das Lied „Wasserflut“ aufgrund einer kurz auftretenden Gedächtnisschwäche durch die Interpretin in eleganter Manier verkürzt dargeboten wurde, tat ihrem Vortrag keinen Abbruch. Ihr musikalischer „Rückblick“ auf ein erfülltes politisches Leben schlug gekonnt den Bogen vom hoffnungslosen Aufbruch ...

Lustig in die Welt hinein,

Gegen Wind und Wetter!

... über die Ankunft in der Hauptstadt ...

Wie anders hast du mich

empfangen,

Du Stadt der Unbeständigkeit!

An deinen blanken Fenstern sangen

Die Lerch' und Nachtigall im Streit

... bis zum stimmlich bravourös gemeisterten Abschied aus Bonn ...

Es brennt mir unter beiden Sohlen

Tret' ich auch schon auf Eis und

Schnee.

Ich möcht' nicht wieder Atem holen,

Bis ich nicht mehr die Türme seh'

..., der mit herzlichem Beifall bedacht wurde.

Den Höhepunkt bildete aber zweifellos Klaus Kinkels leidenschaftliche Darbietung der letzten Leidensstation der freidemokratischen Winterreise, die deshalb ungekürzt hier wiedergegeben sein soll. Unschwer zu erkennen, daß Kinkel an das schreckliche Los eines der hervorragendsten liberalen Politiker unserer Zeit gemahnen wollte:

Der Möllemann

Drüben hinterm Dorfe

Steht ein Leiermann,

Und mit starren Fingern

Dreht er, was er kann.

Keiner mag ihn hören,

Keiner sieht ihn an,

Und die Hunde brummen

Um den schönen Mann.

Und er läßt es gehen,

Alles wie es will,

Dreht und seine Leier

Steht ihm nimmer still.

Barfuß auf dem Eise

Schwankt er hin und her,

Und sein kleiner Teller

Bleibt ihm immer leer.

Wunderlicher Schöner!

Willst du mit mir gehn?

Willst zu meinen Reden

Deine Leier drehn?

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