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Wo stecken die Rallen aus Hongkong?

Zählen, messen, wiegen: Nicht nur Wirtschaftsbetriebe machen zum Jahresende Inventur, sondern auch der Berliner Zoo. Wie kommt der Gorilla auf die Waage, und wer numeriert die Ameisen?  ■ Aus Berlin Bascha Mika

Streng riecht's. Scharf nach Pisse und dumpfig nach Kot. Warme Luft, dämmriges Licht, eine Horde haariger Gestalten. Schwipp, schwupp! Rüber zum Seil und rauf auf den Stamm, im Ring geschaukelt, am Ast gewippt. Mit affenartiger Geschwindigkeit. Hier keckert's, da kreischt's, aus einem gekachelten Raum tönt eine Stimme: „Menschenaffen Sebekow!?“

Tierpfleger Andreas Sebekow hängt das Telefon ein und inspiziert seinen Karteikasten. Inventur im Berliner Zoo. Stichtag 31.12.1994. Bis zum heutigen Silvester müssen alle Tiere gemessen, gewogen, gezählt werden. Säuger und Vögel, Reptilien und Amphibien, Fische und wirbelloses Getier. Bestandsaufnahme auch im Affenhaus.

Ein Teil des Bestandes umklammert Sebekows Bauch und prüft eine Karteikarte auf ihren Geschmack. Sieht aus wie ein kleiner Punker, mit kräftig rotbraunen Haaren, die steil von der Stirn nach oben streben. Shinta, das Orang- Utan-Baby. Gleichmütig guckt es aus Haselnußaugen, spitzt die Lippen und streckt eine bläuliche Zunge heraus. Sebekow: „Sie langweilt sich.“ Das Affenmädchen wurde im Zoo mit der Hand aufgezogen. Statt drei Jahre am Bauch ihrer Affenmutter hängt sie so oft es geht am Bauch ihrer Pfleger.

„Einen großen Gorilla oder Orang-Utan können wir für die Inventur nicht wiegen.“ Das ist für Andreas Sebekow keine Frage. „Wie sollten wir den denn auf die Waage kriegen? Auch im Zoo bleiben wilde Tiere eben wilde Tiere.“ Menschenaffen sind gefährlich. Und manchmal ziemlich schlecht gelaunt. „Du siehst genau, ob sie gut druff sind oder nicht, sonst biste kein Affenpfleger.“

Einen miesepetrigen Affen sollte der Pfleger in Ruhe lassen. Erst recht, wenn das Biest ihn nicht leiden kann. Die tierische Aggression reicht von der Drohgebärde bis zum Angriff: Erst husten, dann spucken, dann zuschlagen. Wer dann noch nicht das Weite gesucht hat, wird die Narben der Bißwunden lange mit sich herumtragen.

„Die Menschenaffen werden gezählt – 31 haben wir zur Zeit –, bei den großen wird das Gewicht nur geschätzt. Bei Shinta, unserem Baby, ist das natürlich anders.“ Doch auch Shinta hat keine Lust auf Inventur. Wie ein Kind versteckt sie sich an Sebekows Brust. Widerwillig lockert sie ihren Griff, um sich auf die Waage setzen zu lassen. Hockt da und schneidet Grimassen. „Neun Kilo.“ Normalgewicht für einen zweiundzwanzig Monate alten Orang-Utan.

Rund 14.000 Tiere schwimmen, fliegen, watscheln und traben, kreuchen und fleuchen im Berliner Zoo. Knapp 1.500 verschiedene Tierarten beziehungsweise -rassen. In dieser Vielfalt ist er der größte Tierpark der Welt. Seine Bewirtschaftung verschlingt 50.000 Mark am Tag. Siebzig Prozent der Kosten können durch Eintrittsgelder und Pachteinnahmen gedeckt werden. Den Rest zahlt seit 140 Jahren die öffentliche Hand, sprich, die Stadt Berlin. Vor 150 Jahren wurde der Zoo gegründet.

„Weil der Zoo von öffentlichen Geldern lebt, muß er jedes Jahr nachweisen, wo sie geblieben sind. Deshalb brauchen wir eine ganz genaue Buchhaltung.“ Eigentlich ist Rudolf Reinhard, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zoo, zuständig für alles, was Federn hat. Doch inzwischen kennt er auch die Tücken der Buchführung. „Kein Buchprüfer sieht es gern, wenn wir Tiere in der Inventur als vermißt melden, und sie tauchen plötzlich wieder auf.“

Da ist zum Beispiel diese Graukopfgans. Auf dem Papier schon dreimal verschwunden und in Wirklichkeit immer noch da. Verkriecht sich bei der Zählung einfach geschickt. „Bei Wassergeflügel“, stöhnt Reinhard, „ist die Bestandsaufnahme wirklich kompliziert.“ Denn die Pfleger müssen eine „körperliche Inventur“ abgeben: Sie sollen die Tiere in der Hand gehabt oder sehr nahe gesehen haben. Mäuse übernachten in Nestern, da kann der Pfleger reinsehen und zählen. Aber bei Enten, da heißt es Futter auslegen und locken und ...

Zwischen den Blättern der Palme piepst's, unterm Blattfarn tschilpt's, und wer trillert oben vom Drachenbaum? Der Gelbbürzelstirnvogel, der Weißkopf-Schwarz- Bülbül oder gar der Silberohrsonnenvogel? „Hier in der Freiflughalle, zwischen den vielen Pflanzen, sind die Vögel ganz doll schwer zu zählen.“ Reviertierpfleger Jörg Ulbricht grinst, als würde ihm das Versteckspiel mit seinen Pfleglingen Spaß machen. Für 400 „Individuen“ und 130 Arten ist er verantwortlich. Allein in der Freiflughalle tummeln sich 60 Exoten aus dem indopazifischen Raum. Aber wo?

Da schimmern knallblaue Flügel, dort schrillt ein schwarzgelber Schwanz, und ein roter Schnabel leuchtet nahe der Entengrütze am Teich. Doch der winzige Sänger, grün wie der Bambus auf dem er sitzt, ist bestens getarnt. Es gibt eben Tiere, die kommen heraus, wenn sich ein vertrauter Pfleger nähert, andere verkrümeln sich dann erst recht. Ulbricht: „Da muß man sich eben Zeit nehmen und beobachten und immer mal wieder hingehen und gucken.“

Der Blauschwanzpitter hat seinen Stammplatz auf einem Baumstumpf; aber wo stecken die Rallen aus Hongkong? Die Rallen kamen an und waren fortan spurlos verschwunden. Nach Monaten entdeckte ein Pfleger die Rallenmutter, die mit ein paar Kleinen in der Halle herummarschierte. Er sah sie nie wieder. Die üppige tropische Vegetation hat sie verschluckt. Doch die Tierpfleger haben schließlich auch ihren Ehrgeiz. Also linsen sie bei der Inventur unter Borke und Blatt, bis das letzte Federtier aufgespürt und verzeichnet ist.

Und bei den Ameisen und Bienen? Krabbelt der Pfleger von einem Insekt zum anderen? Unnötig. Ein Ameisen- oder Bienenvolk wird als ein „Individuum“ gerechnet. Basta. Auch einer Schlange wird nicht Maß genommen. Die Schleicher werden gezählt und gewogen. „Mit den Fischen“, sinniert Zoologe Reinhard, „ist das schon eher ein Problem.“ Man nehme nur den ordinären Barsch. Der ist ja gar nicht so winzig, zieht aber seine Jungen in verborgenen Höhlen auf. Andere Flossentiere wuseln wie wild im Wasser. Gezählt wird Pi mal Daumen: „Da muß man eben eine gewisse Großzügigkeit haben.“ „Wenn einem allerdings bei den Elefanten ein Rechenfehler passiert“, spottet Reinhard, „ist das etwas anderes.“ Und auch schon vorgekommen. Da hatte vor Jahren ein Pfleger einfach die Inventur des Vorjahres abgeschrieben. Und vergessen, daß ein Elefantenbulle auf Hochzeitsreise in einem anderen Zoo war, um dort eine Kuh zu decken. „Sehr, sehr peinlich!“

Das wird in diesem Jahr wohl nicht wieder passieren. Da kommen die Rüsselträger einer hinter dem anderen vom Freigehege ins Elefantenhaus getrottet. Acht asiatische, ein afrikanischer. Auf dem Rücken von Benjamin Blümchen – zur Zeit ist er der einzige Bulle, der andere Kollege ist auf Brautschau in Hannover – liegt noch etwas Sand. Er liebt es, sich und die Zoobesucher damit zu strählen. Die Tiere stellen sich stoisch in Reih und Glied und lassen einen Vorder- und Hinderlauf anketten. Lakshmis Stummelschwanz wackelt erbärmlich am riesigen Hintern. Die eine Hälfte wurde ihr bei einer Schlägerei von einer anderen Elefantendame abgebissen.

Pang Pah, ein Findelkind aus Thailand, muß für die Inventur gemessen werden. Sie ist erst sieben Jahre, „verspielt und ein richtiger Rabauke“. Das freut Elefantenpfleger Rolf Becker, und der silberne Dickhäuter an seinem Hals fängt an zu hüpfen. Gewogen ist das Elefantenmädchen bereits. Zu ihrem Training gehört ein Spaziergang über das Zoogelände. In Begleitung, versteht sich. Einmal im Jahr geht's dabei auf die Lkw- Waage im Wirtschaftshof. „1.600 Kilo.“ 130 Kilo hat sie seit dem letzten Jahr zugenommen. Bei ihren erwachsenen Artgenossen wird das Gewicht nur geschätzt.

Pang Pahs Größe fehlt noch. Pfleger Becker und ein Kollege schnappen sich eine Meßlatte und einen Holzstab. Rein zu den Elefanten. Die pusten ihre Abendration Heu durch die Gegend und stopfen sich's ab und an träge ins Maul. Als die Tür knirscht, glotzen sie neugierig. Ach, nur der Becker. Die wulstigen Schädel schwingen zum Futter zurück.

Becker legt Pang Pah den Meßstock an. Das Elefantenmädchen beäugt ihn von der Seite und schlenkert gelangweilt mit seinem Rüssel. Mit dem Holzstab als Querlatte stellt Beckers Kollege die Schulterhöhe fest: „2,20 Meter.“ Fünf Zentimeter sind seit der letzten Inventur dazugekommen. Der Berliner Rechnungshof wird sich freuen.

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