■ Aus der guten alten Zeit: Ein Überbau für stinkende Flüsse
Spätestens seit dem Mittelalter litten die StädterInnen unter Umweltverschmutzung. Die Stadt ist und war schon immer ein ökologisch besonders instabiler Lebensraum, in dem es keine geschlossenen Stoffkreisläufe gibt. Um die Überreste, Abfälle und Ausscheidungen aller Art irgendwie hinauszuschaffen, nutzte man kurzerhand die Wasserwege. Die (Schein-)Lösung aber kuriert nicht einmal die Symptome, sie überdeckt sie nur – bis heute.
Im Mittelalter war die Hygiene an römische Traditionen angelehnt und, verglichen mit späteren Zeitaltern, hochentwickelt. Im Paris des 13. Jahrhunderts existierten 32 öffentliche Bäder. Gemälde aus jener Zeit zeigen tafelnde Frauen und Männer – gemeinsam im Bad. Die prüden Sittenwächter ließ dies nicht ruhen; im frühen 14. Jahrhundert schlossen die meisten Bäder ihre Pforten. Von diesem Zeitpunkt an läßt sich die Umweltgeschichte der Städte häufig mit den Methoden der Epidemiologie am treffendsten beschreiben – und zwar bis zu unserem Jahrhundert: Man denke an die große Choleraepidemie in Hamburg anno 1892 und die Typhusepidemie in Gelsenkirchen 1901.
Ab dem 14. Jahrhundert häufen sich in den Londoner Stadtarchiven Dokumente, die die hochgradige Belastung der Stadt mit Abfällen belegen. Vor den Problemen der Entsorgung verschloß man von je her die Nase. Die Aborte wurden über den Flüssen und Bächen konstruiert, was diese so verstopfte, daß der Fäkalienschlamm zum Teil direkt an die Themse gekarrt und hineingeworfen werden mußte. Wo der Gestank unerträglich wurde, behalf sich die mit Beschwerden zugeschüttete Stadtverwaltung oft damit, die Flüsse zu überbauen. In London sind außer der Themse selbst heute fast keine an der Oberfläche fließenden Gewässer mehr zu sehen.
Ansonsten blieben die Behörden tatenlos. Bis dann eines Tages die Herren Parlamentarier vom Gestank der Themse derart molestiert wurden, daß sie bleich und mit Taschentüchern vor dem Mund fluchtartig den Sitzungssaal verlassen mußten. Dies trug sich 1858 zu und ging als der „große Gestank“ in die englischen Annalen ein.
Darauhin entfalteten sich hektische Aktivitäten und eine hitzige Debatte. Man einigte sich zunächst darauf, tonnenweise Chlorkalk und Kohlensäure in den Fluß zu kippen, um den Geruch zu neutralisieren – eine typische Maßnahme des nachsorgenden Umweltschutzes. Bis zum Jahre 1865 bekam London dann ein geschlossenes Kanalsystem. Damit war das Wasser zwar auch nicht sauberer, aber konnte wenigstens ohne größere Belästigung aus der Stadt geschafft werden.
Die getroffenen Maßnahmen, teuer und aufwendig, entsprachen exakt dem Geist der damaligen Zeit: Alles erscheint technisch lösbar. Gegen die Ingenieure und technikbegeisterten Politiker hatten sich die mahnenden Ärzte, die die Keime von Krankheiten in den Kloaken vermuteten, nicht durchsetzen können. Man fand einfach gefällige Gutachter, Chemiker ihres Zeichens, die dem Abwasser perfekte gesundheitliche Unbedenklichkeit attestierten. Nicola Liebert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen