: Das Medica-Projekt kennen alle
Eine Erfolgsgeschichte aus Bosnien: das Therapiezentrum für vergewaltigte und traumatisierte Frauen in Zenica / In mittlerweile drei Zentren werden sechzig Patientinnen stationär betreut ■ Aus Zenica Erich Rathfelder
Die Wände waren schon weiß gestrichen, und es roch bereits etwas nach diesen typischen Desinfektionsmitteln in Krankenhäusern. Doch noch waren die Handwerker bei der Arbeit, von der Inneneinrichtung war noch nichts zu sehen, medizinische Geräte lagerten unausgepackt in den Transportkisten. Doch die mitten in diesem Durcheinander wirbelnde Monika Hauser, die Gründerin und der Motor des Frauentherapiezentrums „Medica“ in der zentralbosnischen Stadt Zenica, ließ damals, Ende März 1993, keinen Zweifel daran, daß das Haus Anfang April eröffnet werden würde. Stolz führte sie den Besucher durch das Gebäude, das von der Stadtverwaltung für das Projekt gemietet worden war.
Mit der Energie einer Frau, die weiß, daß Tausende von vergewaltigten und traumatisierten bosnischen Frauen schnellstens ihrer Hilfe bedurften, hatte die knapp dreißigjährige Monika Hauser seit ihrem ersten Besuch in Zentralbosnien – das war Anfang Januar des gleichen Jahres – alle Hebel in Bewegung gesetzt und in kürzester Zeit die organisatorischen Voraussetzungen für das Projekt vor Ort geschaffen. Es war ihr nicht nur gelungen, das Geld für die benötigten medizinischen Geräte und die Ausrüstung zusammenzubekommen, sondern sie schaffte es zusammen mit ihren Unterstützerinnen sogar, das Material auch nach Zenica zu bringen. Wer die Schwierigkeiten kennt, über die gefährliche Piste von der Küste aus nach Zentralbosnien zu gelangen, dem konnte dies nur Respekt abverlangen.
Die in der Schweiz aufgewachsene und in Deutschland studierende und arbeitende Südtirolerin ließ zudem von vornherein gegenüber den bosnischen Regierungsstellen keinen Zweifel daran, daß hier ein autonomes Frauenprojekt aufgebaut werden würde. Und das war in der weiterhin von stalinistischen Strukturen geprägten Bürokratie der zentralbosnischen Industriestadt eine durchaus revolutionäre Tat, zumal die Initiative von einer westeuropäischen Feministin ausging. Die Patieninnen würden von bosnischen Frauen behandelt werden, versprach sie, „die Unterstützung des Projekte von außen hat letztendlich zum Ziel, die Helferinnen von außen überflüssig zu machen“. Und dies sagte sie nicht, um den Männern der Stadtverwaltung Honig ums Maul zu schmieren, sondern aus innerer Überzeugung. Monika Hauser zeichnete nicht nur Mut und eine fast übermenschliche Arbeitskraft aus, sie verfügte auch über ein handhabbares und durchdachtes Konzept. Und das ist nicht einmal für humanitäre Hilfsorganisationen selbstverständlich.
Natürlich wurde das Haus dann termingerecht eröffnet. Teppichböden waren in den lichten Gemeinschaftsräumen verlegt worden, Möbel angeliefert, medizinische Geräte ausgepackt und aufgestellt. Die ersten 20 Frauen zogen in die geräumigen Zweibettzimmer ein. Neben der medizinischen Betreuung enthielt das Konzept die Bereitstellung psychologischer Hilfen, auch an Kinderbetreuung war gedacht, die Frauen konnten ihre Kinder mitbringen. Schon kurz nach ihrer Ankunft war es Monika Hauser gelungen, ein Team aus 20 bosnischen Ärztinnen, Psychologinnen, einer Psychiaterin, einer Soziologin, Krankenschwestern, einer muslimischen Theologin, Übersetzerinnen und Verwalterinnen, Köchinnen und anderen Hilfskräften zusammenzustellen. Das Team, selbst multikulturell zusammengesetzt, war auch in der Lage, Patientinnen ambulant zu behandeln. Über 1.200 Frauen wurde so schon in den ersten Monaten der Existenz von Medica Hilfe zuteil.
„Rückblickend“, so sagt Silha Hadzichajdić, eine 55jährige ehemalige Deutschlehrerin, die seit Anbeginn im Projekt als Übersetzerin und Organisatorin arbeitet, „also rückblickend betrachtet, wäre ein Projekt wie Medica wohl ohne die Hilfe von außen nicht zustande gekommen. Doch jetzt ist Medica ein gemeinsames Projekt der bosnischen Frauen und der Frauen des Medica-Teams in Köln. Die Patientinnen, die hier behandelt wurden, haben wieder Selbstbewußtsein erlangt, haben nach all dem, was sie durchgemacht haben, wieder Hoffnung und Zutrauen zu sich selbst gefunden. In Zusammenarbeit mit dem Büro in Köln und den Spenderinnen und Spendern in aller Welt ist das Ganze ein sehr erfolgreiches Projekt geworden.“
Wir sitzen im Speiseraum von Medica 2, einem weitläufigen Gebäude mit großen Fenstern hin zum Innenhof, das etwas außerhalb der Stadt in einer ruhigen Gegend liegt. Hier sollen die Frauen mit einer Arbeitstherapie auf ihr Leben „draußen“ vorbereitet werden. Nach drei bis sechs Monaten Betreuung im Stammhaus Medica 1 können Frauen, die dies wollen, einige Monate hier verbringen und versuchen, an das Berufsleben – das im heutigen Bosnien nur in beschränktem Maße existiert – anzuknüpfen. Dazu werden Kurse in klassisch anmutenden Frauenbeschäftigungen wie Nähen und Weben angeboten. In den Therapiegruppen wird die in Medica 1 begonnene Behandlung fortgeführt. Das Haus wird gemeinsam geführt, alle beteiligen sich an den nötigen Arbeiten.
Silha Hadzichajdić, die jetzt Medica 2 leitet, preist das integrale Konzept, das für Medica steht. „Wir haben mit Medica 1, Medica 2 und jetzt auch Medica 3 – unserer dritten Dependence in Visoko, wo auch Landwirtschaft getrieben wird – unterschiedliche Stufen der medizinischen Behandlung, der psychologischen Betreuung und der Arbeitstherapie aufgebaut. Mit einem Laden versuchen wir sogar, die von uns hergestellten Produkte zu verkaufen. Wir streben an, unser Konzept so zu erweitern, daß auch die Familien in die Behandlung einbezogen werden, was ja teilweise schon geschieht.“
Medica hat sich im letzten Jahr vergrößert. Jetzt sind es schon 65 Frauen, die in dem Projekt angestellt sind, 60 Frauen und fast ebenso viele Kinder werden stationär in den drei Häusern behandelt, die ambulante Betreuung von Hunderten von Frauen wird fortgesetzt. „Wir sind sehr schnell gewachsen, das schafft auch organisatorische Probleme“, sagt Druska Andrić-Ruzicić, die Leiterin der Infothek, zu deren Aufgaben sowohl die Pressebetreuung als auch der Austausch von Informationen gehört. Das Büro der Infothek ist voll computerisiert und an internationale Data-Networks angeschlossen. Auch im Medica-Büro in Köln mache das Wachstum des Mitarbeiterinnenstamms in Zenica etwas Sorge, erklärt Druska Andrić-Ruzicić. „Wir brauchen klarere Entscheidungsstrukturen“, deutet sie den Wunsch der Mitarbeiterinnen vor Ort an, eine Hierarchisierung der Funktionen und Entscheidungsstrukturen durchzusetzen. „Nicht alle sollten über alles entscheiden können.“ Die Frauen des Medica-Teams in Köln dagegen bestünden auf den offenen Strukturen der Selbstverwaltung. Auf einem Treffen der beiden Gruppen im November 1994 seien die unterschiedlichen Konzepte miteinander konfrontiert worden, eine Lösung sei aber noch nicht gefunden worden.
Rund 50.000 Mark müßten für Medica Zenica monatlich aufgewendet werden. Mit der Ausweitung der Aufgaben sind auch die Ausgaben gestiegen. Das Spendenaufkommen sei zwar stabil, erklärt Marijana Senjak, eine Psychologin, die von Beginn an im Projekt mitarbeitet und die im Rahmen der Selbstverwaltungsstrukturen nun als Leiterin des Gesamtprojekts in Zenica fungiert. Die Angestellten erhielten 400 bis 800 Mark im Monat, die laufenden Kosten verschlängen den Rest. Die Versorgung mit Lebensmitteln werde über den deutschen Konvoi abgewickelt.
„Im Jahr 1993, als der ,Krieg im Kriege‘ tobte, waren die Zufahrtswege von der dalmatinischen Küste des öfteren unterbrochen“, erläutert Marijana, „als dann noch hier in der Nähe einige von der kroatisch-bosnischen HVO abgeschossene Granaten heruntergingen und die Lebensmittelversorgung nicht mehr reibungslos klappte, durchlebten wir schon einige kritische Momente.“ Und nicht nur dies: Zahlreiche Patientinnen aus dem Raum Vitez mußten behandelt werden, die meisten von ihnen Opfer von Vergewaltigungen durch Soldaten der kroatischen HVO. „Ohne die Unterstützung von außen, ich meine auch das Wissen, daß Frauen in Deutschland und anderswo an uns dachten und halfen, wäre es nicht so einfach gewesen, das alles zu überstehen.“ Mit der Psychologin Michaela Schumacher und der in Köln wirkenden Organisatorin Gaby Mischkowski seien auch in dieser kritischen Zeit Frauen von außen nach Zenica gekommen. Und Monika Hauser stehe nach wie vor mit Rat und Tat bereit.
Die Straße von Medica 1 hinunter zum Stadtzentrum führt an den Stellen vorbei, wo die Granaten eingeschlagen sind. In einem kleinen Laden sind einige Frauen beim Einkaufen. Jetzt, nach dem Waffenstillstand zwischen der HVO und der bosnischen Armee, seit der Bildung der bosniakisch-kroatischen Föderation also, gibt es hier wieder alles zu kaufen. Selbst Bananen und Mandarinen werden angeboten, die Regale sind gefüllt mit Reis, Nudeln, Gewürzen, Alkoholika und Brot. Nur wer über Devisen verfügt, könne dies jedoch bezahlen, erklärt eine der Frauen. „Wer kein Geld hat, und das sind die meisten, muß doch von der humanitären Hilfe leben.“ Das Projekt Medica kennen alle. „Die haben viel für uns Frauen getan. Sie unterstützen einige Familien sogar mit Lebensmitteln. Uns auch“, sagt eine jüngere Frau, die vor zwei Jahren aus der etwa 60 Kilometer entfernten Stadt Jaice vor den serbischen Soldaten fliehen mußte.
Medica ist in Zenica bereits zu einer etablierten Institution geworden. In der Stadtverwaltung ist man „stolz“ darauf, daß Zenica als Ort für den Aufbau dieses Zentrums medizinischer und psychologischer Hilfe gewählt worden ist. Anfängliche „Mißverständnisse“ seien ausgeräumt. Daß Monika Hauser zur Frau des Jahres in Deutschland und später in Europa gewählt worden ist, sei auch positiv für die Stadt, deren Probleme damit weithin bekanntgeworden seien.
In einem Café in der Innenstadt sitzt Zlata, eine Historikerin und Lehrerin, die bis vor einem Jahr im Projekt beteiligt war. Sie beklagt, daß das Thema der Vergewaltigung und der Traumatisierung der Frauen aus der Diskussion in der Weltöffentlichkeit fast verschwunden sei. „Wenn es politisch opportun ist, dann wird eben über so etwas berichtet, zur Zeit hat sich der politische Wind gegenüber Bosnien gedreht. Nach der großen Mobilisierung und der Empörung über die Vergewaltigungen im Herbst und Winter 1992/93 sind nur noch relativ wenige Frauen übriggeblieben, die mit der Hilfe weitermachen. Das Projekt Medica ist das erste in der Geschichte, das sich der traumatisierten Frauen während eines aktuellen, vor sich gehenden Krieges annimmt.“
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