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„Systematischer Mord an Inguscheten“

Die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ wirft der russischen Armee vor, in Tschetschenien gezielt Inguscheten zu mißhandeln und zu ermorden / Neue Offensive gegen Grosny  ■ Von Bernhard Clasen

Grosny/Berlin (taz) – Nach vier Tagen relativer Ruhe geht der Krieg in Tschetschenien weiter: Gestern bombardierten russische Kampfflugzeuge die Städte Gudermes und Argun sowie ein Munitionsdepot bei Schali. Bodentruppen gingen gegen tschetschenische Stellungen am Nordwestrand der Hauptstadt Grosny vor. Bombardiert worden sollen nach tschetschenischen Angaben auch südliche Teile der Hauptstadt sein.

Ob Moskau mit dieser neuen Offensive erfolgreich war, blieb zunächst unklar. Nach Angaben eines Korrespondenten gelang es den russischen Truppen, die letzte noch offene Zufahrtsstraße nach Grosny einzunehmen und dadurch die Tschetschenen im Süden Grosnys einzuschließen. Ein Sprecher der Tschetschenen teilte dagegen mit, daß die vorrückenden russischen Truppen aufgehalten werden konnten. Nach seinen Angaben schossen die Unabhängigkeitskämpfer ein russisches Kampfflugzeug ab, dies wurde von Moskau dementiert.

Unterdessen wird immer wahrscheinlicher, daß auch Inguschetien in den Kaukasuskrieg hineingezogen wird. So wirft Mariam Jandiewa, Sprecherin der inguschetischen Gruppe der Menschrechrechtsorganisation „Memorial“, den russischen Truppen in Tschetschenien vor, verstärkt Jagd auf in Tschetschenien lebende Inguscheten zu machen. Russische Soldaten hätten Dutzende junger Inguscheten zu Tode gequält oder erschossen.

Als ein Beispiel führt die Memorial-Sprecherin eine Kolonne von Panzerfahrzeugen an, die am 6. Februar in der Mitschurinstraße in Grosny haltmachten und dort junge Tschetschenen verprügelten. Danach seien die Soldaten in das Haus des Inguscheten Barkinchojew eingedrungen und hätten diesen erschossen. Anschließend führten sie dessen 24jährigen Sohn Ruslan sowie einen ebenfalls 24jährigen Verwandten auf die Straße. Dort wurden die beiden zusammengeschlagen und anschließend erschossen. Die Nachbarin, eine in Grosny lebende Russin, hätte ungewollt die Tragödie herbeigeführt: Als sie von den Soldaten gefragt wurde, wo in der Nähe Inguscheten leben würden – man wäre gekommen, um ihnen zu helfen –, hätte sie diesen bereitwillig Auskunft gegeben.

Die gleiche Kolonne ist nach Angaben von Mariam Jandiewa auch für einen weiteren Übergriff verantwortlich. Nur zwei Tage später, am 8. Februar, hätten die russischen Soldaten vier junge Männer angehalten, um deren Papiere zu kontrollieren. Bei drei von ihnen war im Paß in der Spalte für Nationalität „inguschetisch“ eingetragen. Sie wurden nach grausamen Mißhandlungen erschossen. Den vierten, einen Tschetschenen, ließ man am Leben. Memorial in Inguschetien geht davon aus, daß diese Morde keine Einzelfälle sind, sondern System haben. Auch zahlreiche andere Beobachter vor Ort vermuten, daß Moskau die inguschetische Führung provozieren will.

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