: Die Hinterbänkler werden aktiv
■ Parteigründungsboom in Moskau: Die Neuen tragen Namen wie „Vorwärts Rußland!“ und „Großmacht“
Moskau (taz) – Der Tschetschenien-Krieg hat nun auch Auswirkungen auf die Parteienlandschaft Rußlands. Fraktionen gruppieren sich um, und allein in Moskau wurden in den vergangenen Wochen vier „neue“ Parteien gegründet. Angesichts der Schatten, die die für Dezember vorgesehenen Parlamentswahlen vorauswerfen, gerät auch bisher an Hinterbänken festgeklebtes Deputiertensitzfleisch in Bewegung.
An Glanz übertraf die Gründung der Sozialdemokratischen Partei (DSP) alle andern. Polit- Patriarchen wie Jelzins Verwaltungschef Sergej Filatow beehrten sie mit ihrer Anwesenheit. Als Vorsitzender des Gründungsrates fungiert der einstige Gorbatschow- Berater und heutige Chef der Fernsehanstalt „Ostankino“, Alexander Jakowlew. Der dämpfte sogleich Hoffnungen auf eine Einigung aller sozialdemokratischen Kräfte unter seiner Ägide. Mit Recht. Ein Sprecher der erst Anfang Februar offiziell registrierten „Sozialdemokratischen Union“ kommentierte das Ereignis ziemlich eingeschnappt. Dieser Verbund repräsentiert sozialdemokratische Gruppen, die schon zur Perestroika-Zeit ihre Zellen in der Provinz vermehrten. Die „Unions“-Anhänger bemängelten, daß für die DSP-Gründung „administrative Hebel“ betätigt worden seien, sowohl im Kreml als auch in den Provinzbürokratien.
Den gleichen Vorwurf muß sich die Parlamentsfraktion „Stabilität“ gefallen lassen, zu der sich 40 wenig populäre Abgeordnete aus fast allen Fraktionen zusammenschlossen. Die „Stabilität“ wurde von Jelzins engsten Mitarbeitern ins Leben gerufen und erblickt ihre Aufgabe in der „Unterstützung der Politk des Präsidenten“. Finanziert wird sie angeblich von vier Moskauer Großbanken, darunter von der zum „Olbi“-Konzern gehörenden Bank „Kredit National“, die dies auch indirekt bestätigte. Hier zeigt sich, wie Zwist in der einen parlamentarischen Gruppe das Gedeihen der nächsten begünstigt. Olbi-Präsident Oleg Bojko war kürzlich von Jegor Gajdar aus der Partei „Rußlands Wahl“ geekelt worden – weil er den Einmarsch in Tschetschenien befürwortete. Anhänger von „Rußlands Wahl“ bezweifeln, daß die „Stabilität“ so lange hält, wie ihr Name verspricht. Dazu, so meint man, hätten sich die Präsidentenberater bei der Selektion der Mitglieder zu sehr als „Allesfresser“ erwiesen.
Dem durch Deputiertenflucht aus seinen Reihen geschwächten Gajdar reichte am Sonnabend Ex- Finanzminister Boris Fjodorow, Führer der Parlamentsfraktion „12. Dezember“, die Hand, und er erklärte ihn zu seinem engsten Verbündeten. Dies hinderte ihn aber nicht, noch am gleichen Tag auf einem Flußdampfer eine eigene Partei zu gründen. Er nannte sie „Nationale Wiedergeburt – Vorwärts Rußland!“. Fjodorow erklärte dies damit, daß er die patriotischen Werte „nicht für unveräußerliches Eigentum der Herren Ruzkoi und Schirinowski“ halte.
Während das liberale Lager so weiter zerbröselt, sorgt eine Art höherer Gerechtigkeit für einen analogen Prozeß auf der Gegenseite. Die Gründungsintensität rechtspatriotischer Parteien läßt auf Treibhaustemperaturen in ganz Rußland schließen. Wiktor Kobeljew, ehemaliger Parteigänger Schirinowskis, gründete in Moskau mit bisherigen Mitgliedern der ultranationalistischen Vereinigungen „Slawisches Konzil“ und „Nationale Rettungsfront“ eine Bewegung „Wiedergeburt Rußlands“. In Sibirien rief Ex-Vizepräsident Ruzkoi eine „potentielle Massenbewegung“ namens „Großmacht“ ins Leben. Und im fernen Osten des Landes wollen die Angehörigen einer „Humanistischen Partei“ Dörfler und Kollektive zum „Authentismus“ agitieren, zur wahrhaft russischen Selbstfindung also. Barbara Kerneck
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