: In den Waldsee hüpfen heilt nicht
■ Ein Gespräch mit Michael Apted, dem Regisseur von "Nell", der sich auf der Berlinale mit dem Dokumentarfilm "Moving the Mountain" über die chinesische Demokratiebewegung hervorgetan hat
Indianer, Blinde, Affen oder Sprachlose – von „Gorky Park“, „Coalminers Daughter“, „Gorillas im Nebel“ oder „Class Action“ bis hin zu „Thunderheart“, „Blink“ und jetzt „Nell“ und „Moving the Mountain“ zieht sich eine grobe Linie. Und Regisseur Michael Apted ist, wer hätte das gedacht, ein Snob in Schluchtenjodlertracht: beige-braun gemusterter Irland- Schottlandpullover und kühler Geist, wie sympathisch!
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taz: Ihre Filme, so unterschiedlich sie sind, haben doch was gemeinsam. Woraus resultiert dieses starke Engagement für die Unterprivilegierten, Behinderten, Unterdrückten?
Michael Apted: Nun, ich versuche, Individualität zu bewahren, egal ob nun ethnische Individualität, die von Tieren oder die Individualität ungewöhnlicher Menschen. Die meisten meiner Filme drehen sich um die Charaktere und nicht um Handlung. Wissen Sie, wir müssen die gefährdeten Spezies behüten, wo immer sie leben und ganz gleich, ob es nun Tiere sind oder einzelne Personen. Genau das ist auch bei „Nell“ der Punkt, daß ihre Individualität bewahrt werden muß. Man soll Nell nicht beurteilen oder sich anmaßen zu sagen, daß sie etwas ist, wenn sie es gar nicht ist. Es ist wahr, in all meinen Filmen habe ich für die gesprochen, die in Gefahr sind und besondere, eigentümliche „Stimmen“ haben. Das gilt auch für „Moving the Mountain“ – auch die chinesische Demokratiebewegung hat gegenüber der Restgesellschaft eine bestimmte Individualität.
Wie kamen Sie zu diesem Film?
Trudy Styler, Stings Ehefrau, hatte mich auf diese Sache gebracht. Ich war schon als Student sehr an China interessiert, hatte dann, ich glaube 1991, zufällig das Buch „Moving the Mountain“ von Li Lu über die Ereignisse in Peking gelesen. Li Lu gehörte ja nach der Niederschlagung der Unruhen zu den zwanzig meistgesuchten Personen. Plötzlich gab es ein konkretes Schicksal, auf das ich mich beziehen konnte. Diese Demokratiebewegung löste sich für mich in einzelne, konkrete Gesichter auf. Die haben mich interessiert, ihre Sichtweisen. Li Lus Freundin zum Beispiel fuhr nach Peking und hat ihn dort sechs Wochen in den Wirren gesucht. Als sie ihn endlich fand, war schon klar, daß geschossen werden würde, und die beiden verkündeten, daß sie heiraten – völlig euphorisiert im Angesicht ihres möglichen Todes. Sie gingen in ein Zelt auf dem Platz, um miteinander zu schlafen, und konnten es dann nicht, weil ständig jemand reinkam, um zu gratulieren, genauso euphorisiert. So kitschig das klingt, das war auch eine Seite der Ereignisse von 1989. Li Lu hat seine Freundin nie wiedergesehen.
„Moving the Mountain“ koppelt, für einen Dokumentarfilm erstaunlich pathetisch, Spielszenen mit Archivmaterial. Er ist sehr schnell geschnitten, fast wie ein Videoclip. Warum diese Form?
Ich glaube, es ist ein sehr moderner Dokumentarfilm: impressionistisch, emotional. Ich will damit einen Haufen Leute ansprechen, hoffentlich auch junge Leute. Deswegen habe ich verschiedene Arten, zu filmen, eben Interviews, Archivmaterial und Rekonstruktion, gemischt. Ich wollte die Dinge in Bewegung zeigen, lebendig, weil sich die Geschichte ja schließlich auch bewegt. Ich wollte die Gefühle am Leben halten.
Sie wollen der Geschichte den abgespaltenen emotionalen Anteil wieder zurückzugeben?
Vollkommen korrekt. Exakt. Deswegen betone ich die Charaktere. Bevor sich überhaupt etwas ereignet oder verändert, gibt es immer Ideen und Gefühle, die ein politisches Ereignis – sagen wir – einnehmen, es erobern, internalisieren. Sonst hätte 1989 die Mauer nicht fallen können.
Die chinesischen Studentenführer in „Moving the Mountain“ zeigen dieses ganz persönliche „Internet“ zwischen sich selbst und der Politik sehr deutlich.
Mit welchen Konsequenzen?
„Moving the Mountain“ wurde der Kommission für Menschenrechte bei der UNO vorgelegt und außerdem vom Weißen Haus in Washington angefordert. Der Film kursiert, eingeschmuggelt über Hongkong, in China als Raubkopie. Zwei der noch in China lebenden Studentenführer hatten außer mir auch CNN Interviews gegeben und wurden danach erneut inhaftiert.
taz: Ist es nicht so, daß Ihre Betrachtungsweise, vor allem in „Nell“, ein bißchen was von einem Psychothriller hat?
Nein, hm, weiß ich nicht genau. Ich gebrauche den Thriller üblicherweise nicht als Genre. Aber die Widersprüche zwischen der Einzelperson und den Umständen ergeben natürlich eine gewisse, starke Spannung. Ich vermute mal, daß ich genau nach dieser Art Spannung suche: jemand, der außerhalb der Gesellschaft steht. Das ist immer interessant für andere Menschen, und „Nell“ ist natürlich ein extrem dramatisches Beispiel dafür. Wenn Personen außerhalb der Gesellschaft leben, sehen sie uns völlig anders, als wir uns selbst sehen. Das ist immer faszinierend, und davon sind alle meine Filme geprägt, von Außenseitern.
Warum nicht mal was Durchschnittliches?
Weil ich ein Außenseiter bin. Ich habe die letzten fünfzehn Jahre in Amerika, in Hollywood, verbracht, und ich bin als Europäer ein Außenseiter. Ich habe mich immer ein bißchen als Außenseiter gefühlt. Als ich im Filmgeschäft anfing, war ich ein Londoner, der in Manchester arbeitete. Verstehen Sie?
Was hat Sie denn nun ausgerechnet an „Nell“ fasziniert, außer daß sie hyperextrem ist?
Sie kann ein Symbol sein, deswegen mochte ich die Figur ja so. Da ist soviel drin los! Sie können die Sache natürlich einfach als eine Art „narrow story“ betrachten: drei Charaktere, die sich verändern und bewegen. So habe ich es betrachtet. Aber da gibt es natürlich noch jede Menge anderer möglicher Ansätze – die mich ein bißchen erschrecken.
Was zum Beispiel?
Ich wollte keineswegs auch nur nahelegen, daß die Gesellschaft schlecht ist und die Natur einfach wundervoll. All dieses Zeug, wissen Sie, daß wir, um Probleme zu lösen, in den Waldsee hüpfen müssen. Ich wollte keinen Film darüber machen, wie großartig die mächtige Natur ist. Ich war ziemlich nervös wegen der spirituellen Seite von „Nell“. Ich wollte mich beschränken und habe es damit komplizierter gemacht, aber diese andere, spirituell-symbolische Ebene ist nun mal da. Ich wollte nicht, daß der Film eine symbolische, philosophische Stimme hat. Ich wollte einfach etwas mit diesen Charakteren anfangen. Macht das Sinn? Ich war so erschrocken über die großen Prinzipien, die da plötzlich im Film auftauchten, denn ich glaube zum Beispiel nicht, daß die Natur die großmächtige Heilerin ist. Wir sollten sie ernst nehmen und bewahren und auf sie hören. Aber sie ist nicht der Ausweg aus unseren Problemen. Ich will nicht, daß die Einzelnen, ihre sogenannten kleinen Leben und ihre Gefühle vergessen werden.
Das Gespräch führte
Anke Westphal
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