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Unidentified Human Remains

In Arcands „Liebe und andere Grausamkeiten“ kriegt man, was man sieht; hineingeheimnist wird nicht. Sogar der Serial Killer, vom „Spiegel“ nun gerade erst als letzter Schrei entdeckt, ist zur schmückenden Petitesse reduziert  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Ein junges Mädchen hastet durch eine menschenleere Vorstadt aus Brücken, Tunnel, Beton und Kunstlicht. Ängstlich geht sie auf eine Ecke zu. Die Schultasche betont ihre Angreifbarkeit. Im Verborgenen lauert der Mörder. Ein schwarzer Handschuh greift ihr an die Kehle. Vom mörderischen Gelingen erfährt der Zuschauer erst aus dem Fernseher.

Der steht bei David, einem schwulen Ex-TV-Schauspieler um die dreißig, den man aus irgendeiner Männerparfümreklame zu kennen meint und der inzwischen als Oberkellner arbeitet. David wohnt zusammen mit Candy, einer jungen Lektorin, die nur selten ein Buch zu Ende liest und ausschließlich Verrisse schreibt. Sie ist sich über ihre sexuelle Identität nicht so recht im klaren. David zappt derweilen desinteressiert zwischen tausend Kanälen hin und her.

Alles ist verhandelbar: Sex, Gewalt, Sinn

Um Serienkiller geht es in dem neuen Film des kanadischen Regisseurs Denys Arcand, der vor allem mit seinem „Untergang des amerikanischen Imperiums“ berühmt geworden war, nur am Rande. Daß sowohl der psychopathische Killer als auch seine armen Opfer nur beiläufige Fußnoten des Films sind, der keinen einzigen Mord bebildert, macht „Liebe und andere Grausamkeiten“ (für den Titel sollte man irgendwen erschießen) sympathisch. Arcand verweigert sich dem inzwischen pädagogisch – wie in dem blöden Berlinale-Gewinner-Streifen von Tavernier („L'Ûppat“) –, zynisch („Killing Zoe“) oder mit verlogen existentialistischem Pathos (Abel Ferrara, „The Addiction“) daherkommenden Genre. „Die unbegreifliche und unerhörte Tat“, von der mittlerweile selbst der Spiegel Wind bekommen hat, „das unbedingte und absolute Nein zur Gesellschaft und all ihren Werten“ bleibt aus. „Liebe und andere Grausamkeiten“ ist ein unpathetischer Abschied vom Genre der Serial-Killerfilme, die immer reaktionärer und opfersüchtiger im Massenmörder das ganz Andere einer Gesellschaft abfeiern, die sie gleichzeitig als die einzig glückbringende propagieren.

Unauffällig passiert vielleicht sogar etwas Skandalöseres. Denn die jungen Protagonisten nehmen die Morde, die in ihrer Gegend von Montreal passieren, nicht anders wahr als die Fernsehnachrichten, auf die sie beim Rumzappen zufällig stoßen. Die seltsam-grausame Gegenwelt, von David Lynch schon in „Blue Velvet“ nur noch ironisch zitiert, gibt es in Denys Arcands Film längst nicht mehr. Keine verpönten, verdrängten Wünsche, die in ihrem Drang, irgendwie hervorzubrechen, für Verwirrung sorgen. Keine Gesetze, die denen, die sie übertreten, Freiheit und Lust bescheren. Alles ist verhandelbar. Sex, Gewalt, Lebenssinn. Alles spielt sich auf einer Oberfläche ab, die nichts verbirgt.

Arcands junge Helden sind flach. Typisiert. Sie sind schön, doch man meint ihre Schönheit irgendwo schon mal gesehen zu haben. Auch hübsche Stupsnasen werden sie nicht vor Verwechslungen schützen. „Jeder ist ein Original.“ Schwul oder lesbisch oder auch heterosexuell zu sein, mit dieser oder jenem zu schlafen, ist für sie keine existentielle Entscheidung, sondern bloße Frage des Genusses und des Lebensstils. Ihre psychischen Dispositionen mögen zwar gleich sein, die Art und Weise, wie sie ihr Leben konsumieren, unterscheidet sich.

Robert, ein intimer Jugendfreund von David, ist zum zynischen Yuppiebanker geworden. Er haßt sich und die Welt und wirft seinem Freund vor, nie erwachsen geworden zu sein. Doch Erwachsensein heißt ihm nur, eine Arbeit zu machen, die man haßt und mit Leuten zu schlafen, die man nicht ausstehen kann.

Candy, die Literaturkritikerin, ist auf der Suche nach der großen Liebe und verwirrt sich in erotischen Experimenten. Die leicht esoterische Benita arbeitet als Domina in irgendwie affigen Gummiklamotten. Ihren Kunden erzählt sie Gruselgeschichten. David probiert abgeklärt alles aus – Drogen und Körper. Gern witzelt er über die schüchterneren Liebesversuche seiner Mitbewohnerin Candy. Wenn sie ihm leise erzählt, daß eine lesbische Freundin abends zu Besuch käme, ruft er laut, daß das nicht in Frage käme: „Muschi lutschen unter meinem Dach“.

Glücklich sind sie alle nicht. Sie leiden an ihrer Bindungslosigkeit; sie wünschen sich zu lieben oder geliebt zu werden. Ihrem Unglücklichsein fehlt jedoch jedes Pathos. Sympathisch verwirrt und konzeptlos eilen sie durch den Supermarkt ihres eignen Lebens. Das ist, wenn's um Sex geht, meist ziemlich komisch. Wenn Candy bei einem Treffen mit einem neuen Freund hilflos trotzig den Weg zu dem abzukürzen versucht, um das es doch eigentlich ginge und ihn recht unvermittelt fragt, ob er mit ihr bumsen wolle und damit verhindert, daß es zum GV kommt, den beide eigentlich erstreben; wenn in Bettszenen ständig das Telefon klingelt und am anderen Ende sind andere LiebhaberInnen, wenn David als Intrigantentunte die LiebhaberInnen seiner Freundin verschreckt. Am lustigsten ist eine Szene im SM-Studio. Ein Mann um die fünfzig im schwarzen Sheriffkostüm schlägt die gefesselte Domina Benita. Irgendwas ist wohl schiefgegangen, denkt man. Doch zum Glück kommt David als weißer Sheriff, schlägt den Peiniger und befreit seine Freundin.

Doch David hatte sich nur zum Teil einer SM-Inszenierung machen lassen. Mit großer Freude leckt der Fünfzigjährige an weißen Cowboystiefeln. „Life is theatre“ heißt es auf dem T-Shirt von Candy, und in der Tat sind die Grenzen zwischen den Rollen, die die Protagonisten spielen und dem, was sie „wirklich“ sind oder fühlen ununterscheidbar. Zwar leiden sie daran, daß sie sich selbst spielen müssen, um sich selbst irgendwie zumindest (meist als Fremde) zu spüren, doch sie können nicht anders. Hinter den Rollen, die sie spielen, ist nichts oder nur ein diffuser Raum, der früher mal das Über-Ich in Ordnung hielt.

Jemand, der bleibt, bis Ich komme

Das Unbewußte sei in der Konsumgesellschaft am Absterben, schreibt die Analytikerin Julia Kristeva. Autonom und bindungslos gelingt es dem Ich nicht mehr, zum „stimmigen Charakter“ (Jürgen Kuttner) zu werden. So könnte man das Ich, von dem Candy in einer komischen Szene spricht, auch groß schreiben: „Ich brauche jemanden, der so lange dabeibleibt, bis Ich komme“ (David, schlagfertig: „Dann darfst du nicht mit Heteros ins Bett gehen.“)

Am schönsten ist die Szene einer suspendierten sexuellen Initiation. David besucht Kane, seinen Hilfskellner. Bernie ist ein siebzehnjähriger kleiner Mann mit bis zum Lächerlichen gepflegten blonden langen Haaren ( à la Alain Sutter). Gern kurvt er mit dem Porsche seiner reichen Eltern durch die Gegend. Zwar verehrt und bewundert er seinen älteren Freund, doch eigentlich ist er nicht schwul. Auf Davids Verlangen küssen sich die beiden. Dann soll sich Kane umdrehen und die Hosen runterziehen. Mutig überwindet der Kleine seine Penetrationsscheu und bietet sich ängstlich erregt dem Älteren an. Doch der verschwindet hinterrücks und läßt den Teenie verwirrt zurück.

Daß Bernie und David am Ende wohl zueinanderfinden, ist schön, daß die Morde aus verschmähter Liebe zu David geschahen, sei Arcand verziehen.

„Liebe und andere Grausamkeiten“, (Love and other Human Remains), Regie: Denys Arcand, Buch: Brad Fraser, nach seinem Stück „Unidentified Human Remains“, Kamera: Paul Sarossy C.S.C. Mit: Thomas Gibson, Ruth Marshall, Mia Kirshner u.a., Kanada, 1994, 100 Minuten.

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