■ Zum Verfahren gegen Giulio Andreotti: Ein problematischer Sündenbock
Obwohl die Entscheidung für eine Verfahrenseröffnung als Erfolg gewertet wird, hält sich in Italien selbst bei eingefleischten Gegnern des „alten Fuchses“ Giulio Andreotti die Genugtuung in bemerkenswert engen Grenzen. La Repubblica, die mehr als zwei Jahrzehnte die meisten Anschuldigungen und Enthüllungen gegen den „göttlichen Julius“ und seine Mafia-Connections publiziert hatte, sah sich in ihrem Kommentar sogar zu einem scharfen „Solange er nicht verurteilt ist, ist er unschuldig“ veranlaßt.
Die Gründe für die schaumgebremste Kommentierung des tiefen Falles sind vielfältig, doch der Hauptaspekt darin ist: Die meisten Italiener, nicht nur die Politiker und Presseleute, sind sich darüber klar, wie sehr dieser Mann in fünfzig Jahren unentwegten Regierens oder Mitregierens das Land im wahrsten Sinne des Wortes repräsentiert hat: Andreotti war nicht nur ein typischer italienischer Politiker, er war lange Zeit regelrecht Italien. Nichts geschah, wo er seine Finger nicht mit drinhatte – im negativen Sinne, wie bei Mafia und Co, aber auch im positiven Sinne, wie etwa bei der immer wieder nur mit Mühen gelungenen Austarierung des Gleichgewichts in Europa. Und viele seiner Verhaltensweisen spiegeln bis heute auch die vieler seiner Landsleute wider: Die Art, Probleme lieber zu zerreden, denn zu lösen, die Tendenz, bei Konflikten gerne zu vermitteln – und dafür gleichzeitig ein Stück Vermittlungsgebühr zu kassieren; der Trend, Politik vor allem als Terrain zur eigenen Bereicherung anzusehen, den Hang, bei jeder Gelegenheit scharfe Gesetze zu fordern und sogar zu verabschieden, in diese aber Dutzende Löcher einzubauen, durch die die eigenen Freunde bequem schlüpfen können.
Und: Wie die keines anderen symbolisierte Andreottis Politik jenen in Italien so genannten Konsoziativismus, die Aufteilung der Macht unter alle politischen Gruppen, Opposition eingeschlossen, um so das Land ungestört von Wahlergebnissen unter sich aufzuteilen. Ein Vorbild, das sich vom „Palazzo“ in Rom bis nach unten ins letzte Amtsstüblein dörflicher Rathäuser getreulich fortsetzte, bis auch die letzte Zitrone so ausgespreßt war, daß der Kollaps kam.
So ist vielen, zumindest im Unterbewußtsein, klar, daß der Prozeß gegen Andreotti auch so etwas wie exorzistische Züge haben wird. Nur, wie das halt bei solchen Teufelsaustreibungen so ist – man weiß nie genau, ob sie gelingen wird und wo der Teufel danach hineinfährt. Könnte durchaus sein, daß sich der Bock mit den ihm aufgeladenen Sünden plötzlich umdreht und all jenen ihre Schandtaten vorhält, die diese mit ihm so gerne in die Wüste geschickt hätten. Werner Raith
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