: Wem soll die Schule eigentlich nützen?
■ betr.: „Ist die Gesamtschule kind gerecht?“, taz vom 9. 3. 95
[...] Die Grünen sind bei den bevorstehenden Landtagswahlen die letzte Hoffnung aller Eltern, LehrerInnen und SchülerInnen, die die Gesamtschule in NRW – es gibt hier immerhin 190 davon – als einzige integrierende Schulform erhalten wollen. Die SPD hat es in 25jährigem Gesamtschulstreit geschafft, den Mund in inzwischen chronischer Verkrampfung gespitzt zu halten, ohne daß ihr bisher auch nur ein einziger bemerkenswerter Pfiff gelungen wäre. Aus der leidvollen Erfahrung der ihr eigenen schulpolitischen Ziellosigkeit hat die SPD diesmal versucht, Schulpolitik völlig aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Diese Rechnung scheint nicht aufzugehen. Zu hoffen ist, daß sich der Landesvater Rau („Versöhnen statt spalten“) nicht in seinen schulpolitischen Kleidern zeigt – die Nacktheit könnte erschreckend wirken.
Die Gesamtschule in NRW war schon zu Beginn als eine das dreigliedrige Schulsystem ersetzende (nicht ergänzende!) Schule gedacht. Nur so, mit einem repräsentativen Querschnitt durch einen SchülerInnenjahrgang, war ihr vollständiges Funktionieren gewährleistet. Einige Gesamtschulen, insbesondere in ländlichen Regionen, haben unter diesen Voraussetzungen akzeptable Bedingungen erhalten mit der Folge herausragender Ergebnisse, andere, vorwiegend in städtischen Ballungsgebieten, mußten ihre Ziele unter erschwerten Bedingungen verfolgen und erreichten sie trotzdem oft, weil dort unterrichtende KollegInnen unter erheblichem Mehraufwand manche Defizite ausgeglichen haben.
Eine Gesamtschule wie in Mülheim – so der Bericht der taz –, die einen repräsentativen SchülerInnenquerschnitt hat, wird im Zitat als „Edelgesamtschule“ abgetan und ihr beispielhaftes Funktionieren auf die große Zahl der Kinder zurückgeführt, denen die Aufnahme an dieser Schule vorenthalten bleiben mußte. Der Preis, der für eine solche Schule zu zahlen sei (so die taz): „Sie kann als Gesamtschule nur dann eine Schule für alle sein, wenn sie nicht alle aufnimmt.“ Falsch!!! [...] Gesamtschule kann eben besonders dann eine Schule für alle sein, wenn sie von allen besucht wird. Dazu gehört aber, daß sie alle auf Selektion basierenden Schulen ersetzt.
Da sich in den vergangenen Jahren fast nur noch Gesamtschulen im Aufbau befanden (Neugründungen anderer Schulformen gab es kaum), standen junge KollegInnen, so sie überhaupt ein Einstellungsangebot bekamen, vor der Alternative: Einstellung an einer Gesamtschule oder arbeitslos. Diese KollegInnen, die häufig eigentlich an einem Gymnasium hatten arbeiten wollen, dessen SchülerInnenzusammensetzung sie sich fälschlicherweise noch wie in ihrer eigenen (teils verklärten) Schulzeit vorstellten, kamen nun an eine Schule, an der ein ganztägiger Einsatz erforderlich ist, der weit über die gelegentlichen fachlichen Bezüge des Satzes von Pythagoras hinausreicht. Die Kritik dieser KollegInnen an der Schulform Gesamtschule ist teilweise daraus entstanden, daß die eigentliche berufliche Situation bemängelt wird. Es ist tatsächlich beschwerlich, einen Förderkurs in der neunten Stunde zu betreuen, wenn man weiß, daß die KollegInnen am Gymnasium längst ihren Platz auf der heimischen Couch eingenommen haben. Dieser Frust geht aber einher mit einer breiten Zustimmung zur Gesamtschule bei Eltern und Kindern. In NRW mußten in diesem Jahr wieder etwa 10.000 Kindern die Aufnahme an einer Gesamtschule aus Kapazitätsgründen verweigert werden.
Die neidvolle und von mancher Polemik begleitete (s.o.) Sicht auf die KollegInnen an Halbtagsschulen verkennt natürlich, daß sich die Situation auch dort erheblich gewandelt hat: Mit der steigenden Übergangsquote zu den Gymnasien hat sich insbesondere diese Schulform eine Klientel eingehandelt, auf die sie überhaupt nicht vorbereitet ist. Der Anteil „schwieriger“ Kinder ist an den Gymnasien ganz erheblich angestiegen. In der ersten Freude über steigende Schülerzahlen ist das lange übersehen worden. Inzwischen wissen sich die dort unterrichtenden Kolleginnen des Sieges dieser Schulform nicht mehr recht zu freuen. Sie erkennen, daß auch für das Gymnasium gilt: Keine Schulform hat inzwischen die Kinder, für die sie eigentlich gedacht war. An dieser Situation leiden viele, und das Gymnasium ist ihr am wenigsten gewachsen. Trotzdem wird an dieser Schulform Kritik kaum laut – schon gar nicht von KollegInnen. Der Grund ist einfach: Aus der Gesamtschule kann man als LehrerIn versuchen, zum Gymnasium zu fliehen, aber wohin sollen die Gymnasialen?
Die Diskussion in NRW wird wieder einmal über die Köpfe der eigentlich betroffenen SchülerInnen hinweggeführt werden. Die Frage aber bleibt: Wem soll Schule eigentlich in erster Linie nützen? Eine schülerfreundliche Antwort ist immer auch ein entscheidenes Plädoyer für die Geamtschule, denn die Alternative zur heutigen Gesamtschule ist eine bessere Gesamtschule. Dabei ist mit fast allen die Diskussion zu führen, wie eine bessere Gesamtschule aussehen kann, außer mit denjenigen, die diese Schulform gleich ganz abschaffen wollen. Berthold Grütz, Bergneustadt
H.G. Rolff irrt, wenn er die Behauptung als empirisch widerlegt zurückweist, Leistungsschwächeren ginge es in der Hauptschule besser als in integrierten Systemen. Genau dieses hat der Bildungsforscher H. Fendt in methodisch sehr sauber angelegten Untersuchungen bereits in den 70er Jahren beschrieben.
So kann es einem gehen, wenn man sich die falschen Fragen aufdrängen läßt. H.G. Rolff weiß eigentlich, was die Bildungsforschung in den letzten 20 Jahren als Kernaussage herausgearbeitet hat: Die Qualitätsunterschiede zwischen einzelnen Schulen sind eindeutig größer als zwischen Schulformen. Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren als Schulpsychologe mit allen Schulformen auf allen möglichen Ebenen (Beratung, Organisationsentwicklung) und behaupte, sehr, sehr viele Schulen „von innen“ zu kennen. Die eigentlich richtige Frage lautet für mich: Welche Unterschiede bestehen zwischen guten und schlechten Schulen? Ein Konsens, was darin gut und schlecht bedeutet, wäre durchaus zu finden.
Und bei dieser Frage würden manche Gesamtschulen gut, andere schlecht, manche Gymnasien gut, viele aber schlecht abschneiden. Dieser Frage muß sich die Gesellschaft zuwenden, statt eine einzelne Schulform unter Legitimationsdruck zu stellen und sie damit zu Versprechungen zu verführen, die sie nicht einhalten kann. Klaus Temme,
Schulaufsichtsamt Hildesheim,
Schulpsychologische Beratung
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