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Hunderttausendmal Marcos

Hunderttausende demonstrierten in Mexikos Hauptstadt am 1. Mai – erstmals ohne Schirmherrschaft der Staatsgewerkschaften, welche sich in einer Eisenbahnhalle versteckten  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

„Wir kriegen das Tor schon noch auf“, steht drohend in roten Lettern an der Pforte des Regierungspalastes. Für dieses Mal blieb die Tür zur Macht zwar zu, dennoch wurde es ein denkwürdiger Erster Mai auf dem Zócalo, dem riesigen Hauptplatz in Mexiko- Stadt. Denn anders als in den letzten sieben Jahrzehnten, in denen die Staatsgewerkschaften dem jeweiligen Präsidenten hier stets ihre respektvolle Aufwartung gemacht hatten, stand den krisengeplagten DemonstrantInnen dieses Jahr offensichtlich nicht der Sinn nach Danksagung: „Zurücktreten“ war noch eine der freundlicheren Aufforderungen an das unpopuläre Staatsoberhaupt.

In weiser Voraussicht hatte die offizielle Arbeitervertretung – die 38 im sogenannten Arbeitskongreß organisierten PRI-Gewerkschaften – schon im Vorfeld ihren traditionellen Aufmarsch „aus Kostengründen“ abgeblasen und so den Zócalo erstmals für die Unabhängigen freigegeben. Hunderttausende folgten somit dem Aufruf der unabhängigen Gewerkschaften, der Stadtteilorganisationen und der linken PRD-Partei und liefen unter der glühenden Frühlingssonne stundenlang durch die Straßen der Innenstadt, um schließlich am menschenleeren Palast vorbeizumarschieren.

Proletarier aller Länder, hört endlich mal her

Es war ein zorniges und unübersichtliches Treiben: Sprechchöre gegen die „brutale Sparpolitik“ der Zedillo-Regierung und für den „proletarischen Internationalismus“ wechselten sich ab mit Vivas für die Zapatistenguerilla; adrett gestylte Menschen verkündeten frech „Wir alle sind Marcos“, während aus einer anderen Ecke „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ skandiert wurde. Junge Sprüher machten sich an Gebäuden zu schaffen, Blaskapellen spielten kämpferische Melodien und einige versuchten sogar, die hölzerne Eingangstür des Regierungspalastes anzuzünden.

Zentrales Anliegen der hauptstädtischen Mai-DemonstrantInnen war diesmal die Rettung des staatlichen Busunternehmens „Ruta 100“ und seiner 12.000 Beschäftigten. Vor gut drei Wochen hatte sich die Hauptstadtverwaltung besonders bei den ärmsten BewohnerInnen der 20-Millionen- Metropole unbeliebt gemacht, indem sie den öffentlichen Transportbetrieb – für viele Familien das einzig erschwingliche Fortbewegungsmittel – kurzerhand für bankrott erklärte und mehrere Gewerkschaftsführer verhaften ließ. Zwar wurde die Schließung offiziell mit „internen Korruptionsskandalen“ begründet. Kritiker aber vermuten, daß die Bankrotterklärung in Wirklichkeit einen weiteren Schritt zur Entstaatlichung des städtischen Nahverkehrs darstellt und gleichzeitig der Zerschlagung der unbequemen Gewerkschaft Situr dienen soll.

Regierung verspricht Fortschritte – später mal

Die Adressaten der Proteste, allen voran der greise Gewerkschaftsboß Fidel Velazquez und das Regierungskabinett, versammelten sich unterdessen in einer „geschlossenen Veranstaltung“ fernab vom aufgewühlten Zócalo. Höflich beklatschten im Eisenbahner-Auditorium knapp 3.000 geladene Arbeitervertreter die Ankündigung Präsident Ernesto Zedillos, daß man auf den „unangenehmen Wegen“ aus der Krise mit ein wenig „Disziplin“ schon in Kürze erste Fortschritte verzeichnen könne.

Schon wenige Minuten nach Ende der alternativen Mai-Kundgebung im Stadtzentrum, die entgegen aller Befürchtungen ohne blutige Zusammenstöße verlaufen war, wischten Putzkolonnen die Spuren des wütenden Marsches von Wänden und Schaufensterscheiben. Und am Abend war in Radio und Fernsehen von „ein paar tausend“ Demonstranten die Rede, die „irgendwelche“ Parolen gebrüllt und außerdem den Regierungssitz verunziert hätten.

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