: Ich bin das Echo
■ Das Wirtschaftsmagazin "Plusminus" schickt den ersten Politiker aus der Retorte in den Bundestag (21.35 Uhr, ARD)
Das neue MdB sitzt zum ersten Mal im Bundestag. Sein Name ist Hans, und seine Partei scheint mehrheitsfähig. Noch gibt die Politik dem Neuling dieselben Rätsel auf wie der Bevölkerung. Eine besondere Meinung hat er nicht. Hans' Wahlspruch lautet weise und vorsichtig: „Das Volk ist der Wald, und ich bin das Echo.“ Was es hineinruft, Hans plappert es aus.
Als Hinterbänkler und Ausschußaussitzer vertritt er im Plenarsaal die schweigende Mehrheit. Vorne auf der Kanzel behauptet er, daß die Entwicklungshilfe von unserer politischen Stimmung abhängt, und die sei eben schlecht. Er wird den Sozialstaat verteidigen, denn: „Je mehr wir streichen, desto eher können wir uns den Sozialstaat überhaupt leisten.“ Er wird dabei aussprechen, was wir alle zwar wissen, doch nie öffentlich zu behaupten gewagt haben: „Wir wollen den Sozialstaat verwirklichen, ohne daß er dazu in Anspruch genommen werden muß.“ Endlich ist er da, der Politiker aus dem Volk, der inkarnierte Zeitgeist, die hohe Falsettstimme der Wahrheit. Sein Ghostwriter ist der Kabarettist Heinrich Pachl, seine eindringlich hohe Stimme gehört Hans Illner.
Vom Schaltkreis in den Wahlkreis
Der Politiker selbst stammt aus dem Computer; entwickelt wurde er von der Kölner Medienfirma „Tag/Traum“. Sie hat Hans als animierte 3D-Figur weit zahnloser gestaltet, als es seine Autoren sind. Sein Konterfei erinnert an eine polierte Kartoffel mit einer eben solchen Nase, Eintagebart und sorgenvoll nach unten führenden Augenbrauen. Die Wahrheiten dieses deutschen Michel sind formbar wie sein gesamtes Äußeres. Der Politiker aus der Retorte des Computers ist ein endlos wandelbares Wesen. Am Rednerpult, wo sonst nur Ausschuß- und Parteivorsitzende ihre Reden schwingen, darf Hans sein Wörtchen mit aller mimischen Gewalt eines im Computer gestalteten Politikers mitsprechen: Kommt er aus dem Untersuchungsausschuß, spricht er: „Holzauge sei wachsam“, und die Augen quellen stielförmig aus ihren Höhlen. Geht er über zum Blauhelmeinsatz, mutiert sein Kopf zum Stahlgewitter.
Er ist ein Politiker, der denkt, was er sagt und zeigt, was er ist: ein Charakter, der zu jeder politischen Windrichtung sofort die passende Form findet. Hans kann blitzschnell ein Rechtsaußen und gleich darauf ein Atomkraftgegner werden. Seine Knollennase rotiert im Fahrwind der Geschichte, seine Ohren setzen so buchstäblich zum Lauschangriff an, wie sein Hals auch alle noch folgenden Wenden mühelos nachvollziehen wird.
Der virtuelle Politiker hat Deutschlandpremiere. Einmontiert in den Deutschen Bundestag wird er den unveränderbaren Kollegen aus drögem Fleisch und wallendem Blut 14tägig in den Magazinen „Markt“ und „Plusminus“ die Leviten aus den Megabyte- Speichern der Kurzzeiterinnerung lesen. Sogar demokratisch legitimiert ist Hans: „Schaltkreise oder Wahlkreise, wo ist da der Unterschied?“ Arnd Wesemann
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