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Emanzipierte Urmutter

■ Zeugnisse unterdrückter Wünsche: Köln zeigt zum 50. Todestag die unbekannte Vielseitigkeit von Käthe Kollwitz

Koketterie lag der Frau fern: Ernsthafte Sorge trieb sie um, als die 52jährige am 8. April 1920 in ihr Tagebuch notierte: „Ich habe meine Mappen noch einmal durchgesehen. Sehr sehr viel Schlechtes und Mittelmäßiges. Erst die Mappe zu Tod II hat noch schöne Blätter. Und natürlich die Secreta, aber die verkaufe ich nicht und zeige sie auch nicht. Ich weiß nicht, was mit denen nach meinem Tod geschehen soll.“

Sechs Blätter waren es, die Käthe Kollwitz im September 1922 noch einmal den Schlaf rauben sollten. Es sind ein- und mehrfarbige Kreidezeichnungen aus den Jahren 1909 und 1910, die sie selbst durch die Bezeichnung „Secreta“ zum Geheimnis machte. Sie zeigen ausschließlich Liebespaare: Ein Mann kniet vor einer sich entkleidenden Frau, umklammert ihren nackten Körper mit seinen Beinen und vergräbt seinen Kopf in ihren Brüsten, liebt sie schließlich inbrünstig und lustvoll – der aufgerichtete Phallus ist deutlich sichtbar. Die eigene Erziehung und der Respekt vor den moralischen Konventionen ihrer Zeit machten der Künstlerin, deren leidenschaftliches Empfinden der expressive Linienduktus wiedergibt, unmöglich, diese Blätter zu zeigen. Sie blieben lebenslang als Zeugnisse unterdrückter Möglichkeiten und Wünsche verborgen.

Auch in das über Jahre und Jahrzehnte gepflegte Bild, das die deutsche Nachkriegsgesellschaft im Osten wie im Westen von Käthe Kollwitz gezeichnet hatte, mochten die Secreta, wie eine Reihe weiterer Werke, nicht hineinpassen. Die Kunstwissenschaft der DDR vereinnahmte die Künstlerin als eine der Urmütter des so langweiligen wie prüden sozialistischen Realismus.

In der westlichen Wirtschaftswunderrepublik mußte sie, in den Schulbüchern der fünfziger Jahre hunderttausendfach reproduziert, als das gute Gewissen der Bundesdeutschen herhalten. Viele ihrer bekannten Zeichnungen waren dafür allzugut geeignet: Den Kindern, Frauen und Arbeitern blickte das Elend aus den großen, dunklen Augen; Hunger und Elend wurden greifbar, ihre Ursachen allerdings bildete Käthe Kollwitz – immer mehr Humanistin als Politikerin – so gut wie nie ab.

Zum 50. Todestag in diesem Jahr hat nun das bereits seit zehn Jahren äußerst rege Kollwitz-Museum der Kreissparkasse Köln eine Ausstellung realisiert, die sich endlich auf die noch weitgehend unbekannte künstlerische Vielseitigkeit von Käthe Kollwitz konzentriert. 130 Zeichnungen aus allen Schaffensperioden der Künstlerin – rund ein Zehntel aller bekannten Zeichnungen, davon fünf Sechstel aus internationalen Privatsammlungen und größtenteils seit Jahrzehnten nicht mehr in Deutschland zu sehen – schlagen einen Bogen vom frühesten Selbstbildnis der 20jährigen Käthe Schmidt bis zu einer Kohlezeichnung der 70jährigen Kollwitz. In den trotz aller konservatorisch notwendigen Maßnahmen wie lichtdurchflutet wirkenden Dachgeschoßräumen des Museums großzügig gehängt, sind in der sachkundigen Kölner Auswahl echte Entdeckungen zu machen: Daß die Kollwitz von 1908 bis 1910 auch für den Simplicissimus arbeitete, ist nahezu unbekannt und bislang nicht dokumentiert worden.

Ausführlich ist ihre Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“ dokumentiert. Bereits 1910/11 Gegenstand eines umfangreichen Zeichnungskonvolutes, das die Galerie Paul Cassirer noch während des Krieges 1917 ausstellte, beschäftigt das Thema Käthe Kollwitz immer wieder, bis es in der durch die „Abschied“-Zeichnungen vorbereiteten Radierung „Tod, Frau und Kind“ schließlich weite Verbreitung findet. Und natürlich sind auch die Liebesszenen zu sehen – zwar nicht alle sechs Secreta- Blätter, dafür aber eine Reihe weiterer Studien, die Kollwitz als emanzipierte Frau der Jahrhundertwende erscheinen lassen. Die meisten dieser Werke werden ihres fragilen Zustandes wegen wahrscheinlich in Zukunft nicht mehr ausgeliehen werden können – ein Grund mehr, jetzt nach Köln zu fahren. Stefan Koldehoff

„Käthe Kollwitz – Meisterwerke der Zeichnung“. Käthe-Kollwitz- Museum Köln (Neumarkt 18-24), noch bis zum 18. Juni 1995.

Katalog: 260 Seiten mit 120 ganzseitigen Farbabbildungen. DuMont Verlag, Köln. Paperback 48 Mark

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