: „Ich mache es einfach überall!“
Beim 5. Internationalen Papierfliegerwettbewerb in München demonstrieren Falterinnen und Falter, daß sich auch hinter unbeschriebenem Papier seltsame Geschichten verbergen können ■ Von Wolfgang Farkas
„Ich mach' es zu Hause, im Bus, einfach überall“, sagt die blonde Frau im Sommerkleid, während sie aus einem quadratischen Stück Papier ein Herz faltet. Gaby Grottenthaler trägt auch am Hals ein Herz. Sie sitzt mit Kindern und Erwachsenen an einem langen weißen Tisch, der übersät ist mit Papierbögen, mit den ersten einfachen Flugmodellen, mit Filzstiften, Klebstoff und Faltplänen. „Mich fasziniert“, sagt Gaby Grottenthaler, „daß man aus Papier soviel machen kann. Schau'n Sie mal, hier habe ich nur ein Blatt, und nach zwei Minuten ist es ein Doppeldecker.“
Es müssen aber nicht Flieger sein. Es gibt nichts, was man nicht falten könnte: Schachteln, Würfel, Pyramiden, Vögel, Drachen, Schlangen, Hubschrauber, Cowboyhüte, fliegende Nonnen. Dabei muß, wer ein echter Falter sein will, sich an Grundsätze halten. So ist es verpönt, Klebstoff und Schere zu verwenden. Die Tugenden beim Falten sind: Genauigkeit, Kreativität, räumliches Vorstellungsvermögen. „Wenn ich etwas Flaches sehe“, sagt Gaby Grottenthaler, „setze ich das sofort dreidimensional um.“
Es ist Sonntag morgen, elf Uhr. In dem lichtdurchfluteten Saal im ersten Stock der Flugwerft Schleißheim, dem größten Luftfahrtmuseum Deutschlands, bricht das Faltfieber aus. Auch Leute, die nur mal vorbeischauen wollten, versuchen sich jetzt an Fliegern und werden von Falterin Grottenthaler angeleitet: „Sie müssen immer von der Mitte nach außen streichen. Und dann die Spitze zur Verstärkung falten.“ Um 13 Uhr soll nebenan der Wettkampf beim 5. Internationalen Papierfliegerwettbewerb beginnen. Fünfzig TeilnehmerInnen sind schon da, starten Testflüge und tauschen Tips aus, zeigen stolz ihren Flieger oder falten sich einen.
Einer der Hintermänner
René Lucio ist mitverantwortlich für das Spektakel. Der 49jährige bärtige Brasilianer sagt, er habe schon immer gefaltet. Von Berufs wegen. Lucio ist Graphikdesigner, und in dieser Branche gibt es häufiger Aufträge, die gefaltetes Papier erfordern. Papier hat derzeit ein ökologisches Image, zumal wenn es Recyclingpapier ist. „Werbekunden wie Vogue, die Telekom oder Levi's finden Papiermodelle gerade ziemlich flippig“, sagt Lucio. Zum Beispiel die aus 70 Metern Papier gefaltete Weltkugel, die ein muskulöser Boy für eine Levi's-Werbung hochhält. Lucio zählt zu den begehrtesten Faltern Deutschlands.
Zusammen mit seinem Kollegen Jan Spütz, mit dem er in München seit 1981 ein Graphikatelier betreibt, gründete er vor sechs Jahren „Origami München“, Verein zur Förderung und Verbreitung der internationalen Papierkunst. Ori heißt auf japanisch Papier, gami bedeutet falten. Origami München hat etwa 200 Mitglieder – im internationalen Vergleich eher eine bescheidene Zahl. Weltweit gibt es etwa 50 Origami-Vereine, die meisten befinden sich in Japan und in den USA.
Lucio will zeigen, daß man mit einem alltäglichen Material wie Papier Kunst machen könne. Der heutige Fliegerwettbewerb habe weniger mit Kunst zu tun, hier stehe der Spaß im Vordergrund. Er sei ein guter Anlaß, den Menschen auf vergnügliche Weise den Umgang mit Papier näherzubringen. „Einmal saß ich im Flugzeug nach Brasilien“, erzählt Lucio, „und habe so vor mich hingefaltet – ich falte immer beim Fliegen –, da kam ein Junge, der Sohn eines Shell- Bonzen, und plötzlich war ich umringt von Leuten, die das auch lernen wollten.“ Jahre später sei dieser Junge bei einem seiner Faltseminare in Deutschland aufgetaucht, hätte auf Lucio gedeutet und zu seinem Vater gesagt: „Das ist der Mann.“
Gönnerin der Faltkunst
Die Berlinerin Monika Bicker ist zwar nicht Mitglied bei Origami – sie haßt Vereine –, aber dennoch ist sie Falterin mit Passion und entscheidet deshalb heute als Mitglied der Jury, wer denn nun die originellsten und schnellsten Flieger gefaltet hat. Sie ist sehr dünn, ihre Haut schimmert weißlich, und sie wirkt zerfahren. Erst vor wenigen Stunden kehrte sie von einem Faltertreffen aus den USA zurück. In den Staaten sei man, rein faltermäßig, viel weiter als in Deutschland, sagt sie.
Das hätten die AmerikanerInnen nicht zuletzt einer Frau zu verdanken, die so etwas wie die Grande Dame und Gönnerin des Faltens ist: Lilian Oppenheimer, eine reiche New Yorkerin, die letztes Jahr gestorben ist. „Sie hatte einmal im Central Park einen gefalteten Vogel gesehen, das war in den 50er Jahren, und seitdem ist sie nicht mehr davon losgekommen“, erzählt Bicker. Lilian hätte Ausstellungen organisiert und Kongresse finanziert. Und wenn sie dorthin fliegen mußte, habe sie ihre extreme Flugangst bekämpft, indem sie während des Fluges besonders komplizierte Flieger faltete. Zu Lilian wäre man immer gekommen, um sich mit Falterfreaks aus aller Welt zu treffen. „Falten ist eine internationale Sprache“, sagt Bicker, „du setzt dich zu Japanern an den Tisch und kommunizierst nur mit Papier – ohne Worte.“
Tausend Kraniche
Am populärsten ist die Kunst des Origami jedoch in Japan, wo eine schöne, einfallsreiche Verpackung für ein Geschenk genauso wichtig genommen wird wie das Geschenk selbst. Origami entwickelte sich aber auch aus einer langen Tradition der Papierkultur. In der Edo- Zeit, der Blütezeit der japanischen Kunst, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert reichte, wurden neue Techniken des Faltens, Schneidens und Färbens von Papier entwickelt, die auch heute noch verwendet werden. Ein besonderes Symbol des Origami ist der Kranich, in Japan das Symbol für Frieden, Freundschaft und Glück. „Wer tausend Kraniche gefaltet hat“, sagt Monika Bicker, „der wird mit einem besonders langen Leben belohnt.“ Bicker plant in Berlin eine Papierausstellung zu Ehren von Sadako Sasaki. Sadako starb im Alter von zwölf Jahren an Leukämie, zehn Jahre nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima, kurz nachdem sie ihren 654sten Kranich gefaltet hatte. Seitdem, so Monika Bicker, würden Jugendliche weltweit Papierkraniche falten und sie nach Hiroshima schicken, um ein Denkmal für Sadako zu schmücken.
Der Wettkampf
„Jetzt gehe ich an den Start“, fiebert der zwölfjährige Amadeus. Bis zur letzten Sekunde hat er an seinem Modell gearbeitet. Seine Tricks freilich will er nicht preisgeben. Er wird umringt von Fotografen, an den beiden Absperrbändern stehen und hocken die Schaulustigen und etwa hundert KonkurrentInnen.
Eine Flugweite von 21,60 Meter muß Amadeus' Flieger überbieten, ein düsenjetartiges Modell, schwarz-rot-gold bemalt. Bevor Amadeus seinen Flieger Richtung Zielpunkt schleudert, wirft er einen letzten Blick auf den Jungen mit der roten Kappe – seinen schärfsten Konkurrenten. Dann holt er aus, und sein Ding fliegt mit Tempo über dem rot-weißen Mittelstreifen. Raunen – und Beifall. „Bodenpersonal, wieviel?“ ruft der Schiedsrichter, und das Bodenpersonal, zwei Jungen mit Origami-Stickern, vermeldet: „Zwei- und-zwan-zig-sech-zig!“ Das ist neuer Rekord. Amadeus strahlt. Bei der anschließenden Siegerehrung darf er aus mehreren Fachbüchern eins auswählen.
Neben der Flugweite würdigt die Jury – in der auch die brasilianische Generalkonsulin Dinah Flusser und Conrado Dornier sitzen – auch die künstlerische Gestaltung. So erregt etwa ein Pappröhrenmodell mit Luftballonantrieb in der Klasse der Wurfgleiter am meisten Aufsehen. In der Klasse der Papierflieger – in der wirklich nur Papier verwendet werden darf – war wiederum das einfachste Modell das spektakulärste: ein ungefaltetes Blatt Papier, das in sanftem Schwung immerhin sechs Meter dahinsegelte.
Die Visitenkarte
Der 5. Internationale Papierfliegerwettbewerb ist – künstlerisch gesehen – nur ein Vorgeschmack auf den 4. Internationalen Papierfaltkongreß, der am 22. Juli ebenfalls in München stattfindet. Es kommen prominente Vertreter der Faltszene wie Herman van Goubergen, der ein Auto aus Papier mit einem bislang geheimgehaltenen Spezialantrieb (Murmeln) vorstellen wird, oder Masatsugu Tsutsumi, der mit jenen Papierwürfeln eine gewisse Berühmtheit erlangte, auf denen man herumhüpfen kann, ohne daß sie kaputtgehen.
Vielleicht werden auch der italienische Naturwissenschaftler und Falterstar Alfredo Giunta und sein englischer Kollege Paul Jackson dabei sein, die sich Wettkämpfe eigener Art zu liefern pflegen. Als sich die beiden zum ersten Mal vor zehn Jahren in einem Café begegneten, tauschten sie zunächst ihre Vorlieben aus. Es stellte sich heraus, daß Giunta das Falten von Insekten, insbesondere von Ameisen und Fröschen, bevorzugt, während Jackson geometrische Figuren liebt, Tiere aber nicht ausstehen kann. Zum Abschied überreichte Tierfreund Giunta Tierfeind Jackson seine Visitenkarte. Jackson faltete daraus innerhalb von 20 Sekunden einen Papierfrosch und ließ ihn Giunta ins Gesicht springen.
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