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Noblesse für 15 Mark die Stunde

In England spielen es legendäre Kindergärtnerinnen, Prinzen und Punks, und auch hier wird Snooker, das Billard besonderer Art, immer beliebter. Eine Ortsbesichtigung des Dox Snooker Place, gegenüber der PDS-Zentrale.  ■ Von Hans W. Korfmann

Es liegt schon etwas anachronistisch da, gegenüber den altehrwürdigen Mauern der Volksbühne und dem gewichtigen Karl-Liebknecht-Haus: das Dox Snooker Place über dem Plattenbau des zu DDR-Zeiten mit Architekturpreisen versehenen Konferenzsaales des Ingenieurbaukombinates, und es erinnert eher an eine Fabrikhalle als an einen noblen Billardsalon. Mit seinem dunkelblauen Blechdach ist es ein Kuriosum im grauen Alltag um den Alexanderplatz – ein architektonischer und ideeller Widerspruch.

Denn während drüben, keinen Steinwurf entfernt, ernsthafte Genossen mit zerknitterten Anzügen und Gesichtern vor Kaffeetassen und überfüllten Aschenbechern sitzen und ums Überleben der gesamtdeutschen Demokratie hungern, genießt man hier die Annehmlichkeiten des Kapitalismus. Die Fluktuation zwischen den beiden Häusern in der Kleinen Alexanderstraße, die ein gemeinsamer Hof und zuerst einmal die Sorge um die heißbegehrten Parkplätze verband und dann entzweite, ist gleich Null und symptomatisch für die Schwierigkeiten deutsch-deutscher Brüderlichkeit.

Die PDSler, so ließ die Westniederlassung im Herzen des Ostens durchklingen, machten hier ernsthaft Heimrechte geltend, und eine vernünftige Diskussion über die wenigen Parkplätze habe es nicht gegeben. Bis heute, so bedauern die westdeutschen Mieter, habe sich keiner der Nachbarn jemals blicken lassen – dabei habe man gar nichts gegen Gysi & Co.

Aber dem Snooker mit seinen weißen Westen und Bügelfalten, der veredelten Version des alltäglichen Billardspiels, haftet der Geruch des Elitären an, und vielleicht, so heißt es, ließe sich das nicht mit den Richtlinien der PDS vereinbaren. Obwohl ein Herr Gysi ja auch am teuren Sport des Fallschirmspringens Gefallen finde. Aber vielleicht sei das weniger ein Vergnügen als eine Notwendigkeit und Gysi trainiere heimlich für den Ernstfall – um als Staatsfeind Nr.1 das Land auf dem Fluchtweg am Fallschirm verlassen zu können.

Dabei ist Snooker inzwischen zum Volkssport geworden! So zumindest argumentieren die Betreiber. In England erfreut sich Snooker einer ungemeinen Popularität. Schon 1916 gab es die ersten offiziellen Meisterschaften im Königreich, aber seit 1969 und der Einführung des Farbfernsehens erreichen die Übertragungen der Spiele mit den bunten Kugeln höhere Einschaltquoten als Fußball oder Tennisveranstaltungen mit ihren einfarbigen Bällen.

Unter den Liebhabern des Snooker befinden sich legendäre Kindergärtnerinnen und Prinzen, Punks und aktentaschentragende Familienväter. Snooker findet man in jeder verrauchten Kneipe. Es ist das Billard des Engländers: ein Tisch an einem verregneten Sonntagmorgen, um den sich schlechtbezahlte Arbeiter und Arbeitslose versammeln – ein Spiel, dessen 22 farbige Kugeln das mürrische Klima vergessen lassen.

Hier in der Nähe des Alexanderplatzes ist es das nicht mehr. Was man von außen kaum vermutet: In der Halle herrscht teppichgedämpfte Atmosphäre. Und wer ahnungslos, ordinäre Poolbillardtische erwartend, das Dox betritt, wird sich fehl am Platz fühlen in der gepflegten Clubatmosphäre.

Es handelt sich um ein Billard besonderer Art: Kein Dunst hängt über den Tischen, die Luft ist klar, die Sicht ist frei, denn das Rauchen an den Snookertischen ist verboten. Fast andächtige Ruhe herrscht vor, die Musik aus den Lautsprechern ist klassisch und gedämpft, weder die Stones noch Hendrix begrüßen den verirrten Billardspieler aus dem Wedding. Alles ist fremd hier für ihn. 15 Mark kostet der Tisch die Stunde, das ist sogar für einen West-Arbeitslosen eine Überlegung wert.

Beinahe lautlos werden Kugeln in die ledergepolsterten Taschen versenkt, ganze ohne die für Billard üblichen Kriegsgeräusche. Die Niederlage an den Snookertischen kommt auf leisen Sohlen. Disziplin ist angesagt, Höflickeit im Umgang, man spricht leise und grüßt mit Handschlag. Das eigene Queue ist keine Bedingung, aber gern und häufig gesehen – eine Preisliste solcher Tischlerarbeiten hängt über dem Tresen der stilvollen Bar, sie beginnt mit dreistelligen Ziffern und endet dort, wo dem Billardfreund schwindelig wird. Und während er da sitzt und zuschaut, ist er sich sicher, daß er besser wäre – denn er ist einer jener namenlosen Champions des Wedding, den die Neugier hierher trieb.

Es soll nämlich, so geht die Legende, ein arbeitsloser Engländer es weit nach oben gebracht haben mit diesen Kugeln: Die Preisgelder bei Snookerturnieren sind ebenso schwindelerregend wie die der Arbeitsmaterialien! Doch Snookerturniere sind etwas anderes als die Kicker- und Skatturniere des Wedding, und ein Blick auf die dick unterstrichene Kleiderordnung, die die Ausschreibung abrundet, läßt den Champion resignieren: Bis zum Viertelfinale sind eine gedeckte Hose – er weiß nicht einmal, was damit gemeint ist, aber er ahnt, daß er nichts dergleichen in seinem Schrank finden wird –, ein helles Hemd und schwarze Schuhe vorgeschrieben. Ab dem Halbfinale gilt Turnierkleidung: Anzug und Krawatte.

Snooker hat hier etwas wiedergewonnen, was ihm im neuzeitlichen England abhanden gekommen ist: eine gewisse Noblesse. Ein Billardtisch war vor kaum fünf Jahrhunderten in den europäischen Königshäusern selbstverständlich, und ein Billardtuch, dessen plötzliches Verschwinden Mary Stuart kurz vor ihrem unseligen Ende noch so bedauert hatte, war für ihren Kopf gerade gut genug, um ihn nach ihrer Enthauptung darin einzuwickeln.

Ein Jahrhundert später fand Snooker den Weg von den Palästen in die Straßen. Man spielte es in den „Ballhäusern“, die zuerst nur reichen Bürgern zugänglich waren. Erst die Wirren der Französischen Revolution brachten alles durcheinander und das Spiel unters gemeine Volk. Sieben bis acht Millionen Engländer, so schätzt man, spielen heute Snooker.

Der Weddinger ist trotzdem gegangen. Wesentlich wohler fühlt sich ein Musiker. Gerade sechzig geworden, hat er beschlossen, den Job beim Theater des Westens aufzugeben und sich anderem zu widmen. Mit der rentablen Rente in der Tasche pendelt er zwischen Sauna, Konzertsälen und der Billardhalle hin und her. In die Charts wird er es nicht mehr schaffen – aber als Ältestem in der Liga gebührt ihm hier eine gewisse Achtung, und die genießt er. Das Spiel gefällt ihm, denn Geschicklichkeit und Gefühl sind Trumpf. Beides besitzt der Mann, der ehemals den Bogen, nun das Queue führt. Außerdem liebt er Mozart.

In aller Unschuld rollen indessen die Kugeln über die weiten Flächen der Tische, beschreiben wie Sterne ihre berechenbare Bahn. Auf keinem Poolbillardtisch läuft eine Kugel so lange und präzise wie auf diesen. Beschwörend folgt ihr der Blick des Spielers, und es scheint, als lenke er noch jetzt, zehn Sekunden nach dem Stoß, den Lauf der Dinge und die Kugel ins Netz. Dann kommt das Lächeln.

Snookerspieler sind cool, denn Snooker ist eine Mischung aus Mathematik und Geschicklichkeit. Zwar ist es, auf den ersten Blick, ein Spiel wie viele andere. Schließlich geht es auch hier darum, Bälle in Netze zu befördern und zu punkten. Dennoch: Nicht alles, was rund ist, glänzt wie diese Kugeln, und es liegen Welten zwischen ihnen, dem Fußball und der Billardkugel.

Es war zwei Jahre nach dem Fall der Mauer. Vieles war neu im Osten: Sexläden, Banken, Kaufhäuser – auch das Dox. Die beiden Betreiber, die, wie kürzlich zu lesen war, „selbst begeisterte Snookerspieler!“ sind, nutzten die Zeit vielfältiger Sonderangebote und verhandelten mit der Treuhand. Es war die Zeit, als man mit roter Farbe auf die grauen Mauern des Konferenzraumes schrieb: Das Chaos ist vorbei – es war die schönste Zeit!

Nun ist Ordnung eingekehrt, eine Ordnung mit Snookerhallen für Musiker – und Billardkneipen für Arbeitslose. Auch auf dem Parkplatz in der Kleinen Alexanderstraße herrscht nun Ordnung – rechts stehen die einen, links die anderen.

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