: Distanzierte Nähe: „Ausblick auf das Paradies“ von Ingvar Ambjørnsen
Es gibt keine Frau und keine Freunde in seinem Leben. Seit seine Mutter tot ist, gibt es niemanden mehr. Elling ist allein.
Nein, Elling ist nicht allein. 40.000 Menschen leben mit ihm zusammen in der Plattenbausiedlung am Rande von Oslo. Keiner dieser Menschen kennt Elling, aber dennoch sind sie seine Freunde. Eine Frau gibt es auch. Elling verehrt die norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Und schließlich findet sich auch für Mutter Ersatz . . .
Ingvar Ambjørnsen zeichnet in seinem neuen Roman Ausblick auf das Paradies einen wahrhaft außergewöhnlichen Charakter. Die Hauptfigur Elling ist ein absoluter Außenseiter, der trotzdem am Leben seiner Mitmenschen außerordentlich interessiert ist und leidenschaftlich Anteil nimmt. Allerdings ist es ein Interesse auf Distanz: Unfähig zu persönlichem Kontakt, zu Gesprächen oder gar Berührungen, verlegt sich Elling ganz aufs reine Beobachten. Im leergeräumten Schlafzimmer der verstorbenen Mutter installiert er ein Teleskop, durch das er fortan rund um die Uhr den Nachbarn zusieht. Dabei ist er kein Spanner, sein Interesse ist stets von Wohlwollen bestimmt.
Es ist eine interessante Versuchsanordnung: Aus Ellings Perspektive blickt Ambjørnsen in dem Buch auf die heutige anonymisierte Welt. Er läßt Elling aus seinen Beobachtungen Schlüsse über das Leben der anderen ziehen und darüber nachdenken, was sie wohl für Sorgen haben und wie er ihnen helfen könnte. Die Pointe: Elling kommt er zu Einsichten, die für die anderen tatsächlich wertvoll sein könnten. Er sieht menschliche Beziehungen mit überraschender Klarheit.
Aus der Distanz, dem völligen Unbeteiligtsein, gewinnt er sein Urteilsvermögen. Am Ende jedoch läßt Ambjørnsen die Realität mit ihrer ganzen Unlogik und Unwägbarkeit über Elling hereinbrechen. Die Spekulationen über das Leben der Nachbarn und der Ministerpräsiden-tin verwirren sich immer mehr. Seine Persönlichkeit beginnt zu zerfallen.
Das Ganze läßt sich als individuelle Geschichte, aber auch als gesellschaftlicher Kommentar lesen: Als überzeugter Sozialdemokrat fühlt Elling sich behütet im norwegischen Gemeinwesen. Dazu paßt seine Sorge um das Wohl der Mitmenschen. Er weiß, was gut für sie wäre, ohne sie wirklich zu kennen oder gar mit ihnen zu sprechen. Er hat nur den Ausblick auf das Paradies. Der Eintritt ist ihm verwehrt. Ein Paradies, in das man nicht hineinkommt – was ist das schon?
Tim Fiedler
Ingvar Ambjørnsen: Ausblick auf das Paradies, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Edition Galgenberg bei Rasch und Röhring, 208 Seiten, 36,– Mark
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