: Völkerschlachtdenkmal und Cervelatwurst Von Viola Roggenkamp
Das Jahr geht zu Ende. Da komme ich ins Aufräumen. Was weg kann: aus dem Kalender zwei Geburtstage. Die brauche ich 1996 nicht einzutragen. Mit der einen spreche ich nicht mehr. Die andere spricht nicht mehr mit mir. Dann der Zettelkasten. Da liegt drin, worüber ich hatte schreiben wollen. Notizen, gekritzelt auf die Ränder von Zeitungsseiten, auf Kassenbons. Stoff für Glossen. Was steht da? Völkerschlachtdenkmal und Cervelatwurst. Margarete und ihre Schokolade. Der alleinstehende Mann und die Kellnerin. Er hielt, mit unverwandtem Blick auf seinen Teller, die Gabel zwischen Essen und Mund in stetiger Bewegung. Die Nahrung glitt in ihm hinunter. Sie legte ihm vor. Er starrte auf den Löffel in ihrer Hand. Ein Tier im Zoo nimmt den Wärter wahr, der ihm das Futter bringt. Ich hatte etwas darüber schreiben wollen, wie Menschen essen. Unlängst komme ich mit meiner Freundin auf dem Völkerschlachtdenkmal zu Leipzig oben um die Kurve, auf der Suche nach dem Eingang in diese monströse Unappetitlichkeit. Steht da eine Frau und beißt in ihre Stulle. Ich kann mir auch einen schöneren Ort vorstellen, um mein Butterbrot zu verzehren. Der Frau aber war keine andere Wahl geblieben. Sie gehörte zum diensttuenden Personal, trug Uniform und hatte Aufsicht auf diesem steinernen Objekt todbringender Männlichkeit. Nun aber kaute sie mit vollen Backen. Als wir um die Kurve kamen, wollte sie gerade noch einen Bissen Cervelatwurst nachschieben. Ihre Uniform machte für sie diesen natürlichen Vorgang in unserer Gegenwart zur Unmöglichkeit. Sie schlug ihre Lippen zusammen, stopfte das Stullenpaket in die Seitentasche ihres Jacketts und starrte uns entgegen. Ich fühlte mich sofort schuldig. Ganz offenbar hatten wir sie während der Dienstzeit bei einer unzüchtigen Handlung erwischt. Mit dem Mittelfinger der Linken tastete sie den Lippenrand ihrer Mundöffnung nach Speiseresten ab. Jedes Auskunft gebende Wort von ihr hätte in diesem Zustand eine Krümelsalve zur Folge gehabt. Abrupt wandte sie uns ihren Rücken zu und war vorübergehend geschlossen. Ein Eckchen Cervelatwurst lag auf dem Völkerschlachtdenkmal zu ihren Füßen. Darüber zu schreiben, wie andere beim Essen aussehen? So kurz vor Weihnachten mit seinen gebratenen Gänsen? Das wäre nicht fair denjenigen gegenüber, die tote Tiere mögen. Weil nämlich der Vorgang des Essens weit mehr besagt, als daß der Verdauungsprozeß im Mund beginnt und auch hierbei der Anfang auf das Ende verweist. Denken wir allein an das wiederholte Abwischen. Wie gegessen wird, gibt Auskunft über die Vereinnahmung und über den Prozeß des Abgebens. Margarete ißt ihre Schokolade immer in der Konferenz. Sie zieht eine noch ungeöffnete Tafel aus ihrer bauchigen Beuteltasche, legt die Schokolade ganz frei und ißt stetig ein Stück nach dem anderen, ohne einmal während der zwei Stunden etwas anzubieten. Dagegen frißt sich Ingeborg beim Weihnachtsessen ihrer Firma auf allen Tellern durch. Sie bevorzugt wegen der Reichweite runde Tische und leidet unter Verstopfung, was sie mit dem Verzehr von leicht Verdorbenem aus ihrem Kühlschrank ausgleicht. Doch genug damit und in den Müll! Ich möchte niemandem den Appetit verderben, so kurz vorm Fest.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen