: Die weibliche Freude am Sägemehl
Immer mehr Frauen und Angehörige der alternativen Szene entdecken das bislang eher in konservativen Kreisen beliebte Schwingen, eine der großen sportlichen Männertraditionen in der Schweiz ■ Von Susanne Brassel
Basel (taz) – Das Schwingen, ein uriger Ringkampf aus den Schweizer Bergen, gilt seit jeher als Männerdomäne und wird vor allem auf dem Land und in konservativen Kreisen geübt. Seit kurzem aber auch bei Frauen in der Stadt und der linksalternativen Szene, die auf Heimatverbundenheit und Schweizer Folklore bisher keinen großen Wert legten.
Seltsames geschieht in der Demokratie Schweiz: Muskelbepackte hünenhafte Männer treffen sich alle drei Jahre zum „Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest“. Im weichen Sägemehl ringen sie im Zweikampf um den Titel des „Königs“, des Schwingerkönigs, um genau zu sein. Sie prusten und stöhnen, zerren einander an den kurzen Zwilchhosen und versuchen sich gegenseitig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Bis es einem gelingt, den anderen auf den Rücken zu legen, so daß dieser mit beiden Schultern das Sägemehl berührt. Der Sieger wird im ganzen Land gefeiert – fast wie ein neu gewählter Bundeskanzler. Er gilt als „Böser“, den man bei den Schwingfesten im folgenden Sommer besonders fürchtet.
Zu Geld und Macht kommt der König aber nicht, obwohl dem Spektakel bis zu 100.000 Zuschauer beiwohnen. Er gewinnt einen „Muni“, einen jungen Stier – Sinnbild für Kraft und Männlichkeit. „Control“ hieß das Tier, welches heuer beim Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Chur zu gewinnen war: ein prächtiger Zuchtbulle im Wert von 10.000 Franken. Schwingerkönig wurde ein 22jähriger Metzger, Thomas Sutter aus dem Appenzellerland. Aber keine Angst: er hat den Muni längst weiterverkauft. Gestiftet wurde der Stier von Nationalrat Christoph Blocher, einem Mitglied der konservativen Schweizerischen Volkspartei, der als erbitterter EU-Gegner sowie mit einer peinlichen Hetzkampagne gegen die „Linken und Netten“ für Schlagzeilen sorgte.
Beim Schwingfest ist die Schweiz noch in Ordnung: Jodel, Alphornklang, Fahnen und traditionelle Trachtenkleider gehören ebenso dazu wie Bauernstühlchen, Truhen und Kuhglocken, die als „Ehrengaben“ auf die Wettkämpfer warten. Das ist seit Jahrhunderten so. Und es ist auch Sitte, daß beim „Eidgenössischen“ nur die Männer kämpfen, während die Frauen als Ehrendamen, Serviertöchter oder flinke Helferinnen wirken.
Doch auch etliche Frauen haben das Kampfspiel für sich entdeckt. Als Gag, aus Spaß am Neuen, aber auch um die Schweizer Tradition kennenzulernen, haben sich zum Beispiel ein Dutzend Frauen in Basel zusammengeschlossen, der Chemie- und Messestadt an der Grenze zum Elsaß und zu Baden-Württemberg, wo die Schweizer Tradition im allgemeinen weniger gepflegt wird. „Schwingsie Helvetia“ lautete der ironische Name des Vereins. Statt „Heil Dir Helvetia“, den Refrain der ehemaligen Schweizer Nationalhymne, anzustimmen, werden die städtischen Frauen aktiv und schlüpfen in die derben Zwilchhosen. Und dies ausgerechnet im Jubiläumsjahr des Eidgenössischen Schwingerverbandes, der sein 100jähriges Bestehen feierte. Ist Basel etwa ein Nest von Linken und Emanzen, die das friedliche Schweizer Nationalspiel untergraben wollen? Lachend weist Bettina Meuli (31), Gründerin und Präsidentin des Basler Schwingerinnenverbandes, diesen Vorwurf von sich. Die Lust, etwas Neues auszuprobieren, die Schweizer Tradition kennenzulernen, habe die Frauen zusammengeführt – und vielleicht auch ein bißchen Rauflust. Die überkomme sie nämlich, sobald sie im weichen Sägemehl stehe.
Doch wie ein Raufbold sieht die grazile Frau trotz der millimeterkurzen Stoppelfrisur nicht aus, eher wie eine Tänzerin. Keine Spur von Schwielen an den Händen. Sie ist Bewegungstherapeutin und hat vom Ballett bis zu verschiedenen asiatischen Kampfsportarten schon eine Menge ausprobiert. Nun lernt sie den „Kurz“, den „Schlungg“ und den „Bodelätz“ sowie eine Reihe anderer Schwingegriffe und ist im Vorstand des Eidgenössischen Schwingerinnenverbandes.
Vor einigen Monaten haben die Frauen der „Schwingsie Helvetia“ (dazu kommen noch etwa 60 Passivmitglieder beiderlei Geschlechts) mit dem Schwingtraining begonnen – im Lokal des Baselstädtischen Schwingerverbandes. Die Frauen wissen es zu schätzen, daß sie hier üben dürfen. Doch weiter suchen sie keinen Kontakt zu den Schwingern. Einziges Bindeglied zum Männerklub ist der Trainer. Er ist ein Freund von Frau Meuli und stammt aus einer Familie, in der schon der Vater und der Großvater in der Sägemehlarena schwitzten. Schon als Zehnjähriger übte er bei den Juniorenschwingern und nahm selbstverständlich auch am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Chur teil.
Seinen Namen möchte er lieber nicht nennen. Denn etlichen seiner Schwingerkollgen aus der älteren Garde paßt es nicht, daß er die Frauen in den Sägemehlring einführt. Viele von ihnen haben das Gefühl, daß schwingende Frauen die Schweizer Tradition ins Lächerliche ziehen. Männerschwinger sind meist Landwirte oder üben ein traditionelles Handwerk aus, das Kraft erfordert. In Basel sind sie Metzger, Hufschmied, Maler, Mechaniker, Spengler oder Steinmetz. Akademiker gehören zur Minderheit. Anders die Basler Schwingerinnen. Sie sind an der Universität oder haben ihr Studium bereits abgeschlossen.
Es gibt aber auch Schwingerinnen in ländlichen Gebieten, wo die Folklore noch mehr gepflegt wird als in den Städten. Vor allem in der Zentral- und Ostschweiz begannen sie vor einigen Jahren, gemeinsam für Wettkämpfe zu trainieren, und schlossen sich im April 1992 zum Eidgenössischen Frauenschwingverband (EFSV) zusammen; seit gut einem halben Jahr sind auch die Baslerinnen als einziger städtischer Klub dabei. Gründer des Verbandes ist jedoch ein Mann: Jakob Rogenmoser (58) aus Oberägeri. Eher aus einer Laune heraus hat er den Verein ins Leben gerufen und war dessen erster Präsident, bis er von der 22jährigen Ostschweizerin Franziska Schatt abgelöst wurde. Erstaunlich: ein Mann der ersten Stunde in einem Frauenverband – obwohl man in Schwingerkreisen nur verständnislos den Kopf schüttelte.
Eher als Gag wurde schon 1980 das erste Frauen-Schwingfest durchgeführt. „Damenschwingen“ hieß der Anlaß in Aeschi bei Spiez, im Volksmund despektierlich „Weiberschwinget“ genannt. Die frischgebackene Wirtin des Restaurants „Sternen“, Dora Hari (60) – später auch zwei Jahre lang Vizepräsidentin des Eidgenössischen Frauenschwingverbandes –, hatte ihn trotz heftiger Proteste seitens der Schwinger organisiert und dafür die große Wiese neben ihrem Restaurant zur Verfügung gestellt. Der Erfolg blieb nicht aus: Gegen 15.000 Zuschauer strömten an diesem 17. August in das verschlafene Dorf am Thunersee. Und die Medien stürzten sich dankbar auf diesen Einbruch von Frauen in eine Männerdomäne mit nationaler Tradition.
Heute werden bei Frauenwettkämpfen höchstens 4.000 Zuschauerinnen und Zuschauer erwartet. Doch die Zahl der aktiven Schwingerinnen steigt stetig: 100 Schwingerinnen zählt der Eidgenössische Frauenschwingverband zur Zeit, ein Zwerg neben dem fast 50.000 Mitglieder starken Verband der Männer. Dazu kommen aber noch etliche junge Frauen, die daheim auf der Wiese oder zusammen mit den Jungschwingern trainieren. Manche gehen auch zu „wilden“ Schwingfesten, die außerhalb der Verbandswettkämpfe stattfinden und bei welchen sogar Leute mitmachen können, die vom Schwingen keine Ahnung haben.
Das Schwingen ist ein Stück Volkssport geworden, auch in linksalternativen Kreisen in Zürich, die mit Vaterlandsliebe nicht viel anfangen können. Begonnen hatte es just 1991, als die Schweiz mit großem Pomp ihr 700jähriges Bestehen feierte. Eigentlich ein Zufall, denn damals wurde in Zürich über die Erhaltung des alternativen Kulturzentrums „Kanzleischulhaus“ abgestimmt – ein Treffpunkt für Leute der Szene und der Jugendbewegung, die manchem braven Bürger ein Dorn im Auge war. Um bei der Bevölkerung für das „Kanzleizentrum“ zu werben, war ein Riesenfest geplant. Und weil das Schwingen für die Organisatorin Maria Blunschi (eine Österreicherin, die zwei Jahre zuvor in die Schweiz gekommen war) ebenso zum Kulturgut gehört wie Tanz, Musik und Theater, war nebst anderen Wettkämpfen ein Schwingfest vorgesehen. Kurzentschlossen bat Frau Blunschi den Schwingklub Zürich um Mithilfe, bekam aber eine Absage: Im Verband hatte man den Eindruck, daß sich diese jungen Leute über die Schweizer Tradition mokierten, und fühlte sich für politische Zwecke mißbraucht. Mit Politik wolle man eigentlich lieber nichts zu tun haben. Schließlich fand sich ein auswärtiger Schwingerverband bereit zur Mithilfe, und mit Ländlermusik vom Tonband sowie einem richtigen Schweinchen vom Biohof als Hauptgewinn wurde das Fest zum Riesenspaß für Männer, Frauen und Kindern.
Während die meisten Männerverbände solche „wilde Schwinget“ ignorieren oder ablehnen, wissen die Frauen im Eidgenössischen Frauenschwingverband noch nicht, ob sie so etwas wie das „Kanzleischwinget“ gutheißen sollen. Wohl sind solche Wettkämpfe beste Werbung für ihren Sport. Doch wer sie unterstützt, wird in Schwingerkreisen kaum ernst genommen. Zumindest Franziska Schatt liegt das aber sehr am Herzen. Im Moment erstrebt die EFSV-Präsidentin allerdings noch keinen Beitritt zum Männerverband. Das kommt für sie erst in Frage, wenn die Schwingerinnen im Sägemehl etabliert sind.
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