: Im Labyrinth des Bösen
Vor sechs Jahren wurde die Stasi-Zentrale in Berlin von den Bürgerkomitees besetzt, vor vier Jahren das Stasiunterlagengesetz beschlossen, und vor drei Jahren begann die Gauck-Behörde zu publizieren. Einige Ergebnisse analysiert ■ Armin Mitter
Am 15. Januar 1990 begann in Berlin-Lichtenberg mit der Besetzung der Zentrale des berüchtigten Ministeriums für Staatssicherheit die endgültige Schleifung des Macht- und Disziplinierungsapparates der mehr als vierzig Jahre herrschenden Partei.
Dieser Tag bedeutete auch das endgültige Aus für die gemeinsamen Bemühungen von SED-PDS- Parteichef Gregor Gysi und Ministerpräsident Hans Modrow, die die Schaffung eines Verfassungsschutzes als Nachfolgeeinrichtung durchzusetzen hofften. Unter Ausnutzung des kaum angetasteten Medien- und Machtmonopols der „Partei der Arbeiterklasse“ hatten sie unter den im Herbst 1989 veränderten Bedingungen ausgesprochen geschickt und – was heute nur noch den wenigsten im Bewußtsein sein dürfte – durchaus erfolgversprechend agiert. Gysi, der aufstrebende dynamische Jung-Kader, erschien der Garant für die „Erneuerung“ der „Partei des demokratischen Sozialismus“. Modrow wiederum mimte nicht ohne Erfolg den sorgenvollen Landesvater.
Im Gegensatz zum „Hoffnungsträger“ aus Dresden und dem neuen PDS-Napoleon hatten die Mitglieder des Bürgerkomitees in der Berliner Normannenstraße auch nicht annähernd eine Vorstellung von dem, was sie im Labyrinth des Bösen erwartete. Mehr als 6.000 Räume gab es allein in der MfS-Zentrale. In fast allen befand sich eine endlose Zahl von mehr oder weniger gelichteten Aktenschränken.
In der ersten Zeit nach der Besetzung der Dienststellen des Mielke-Imperiums war an eine systematische Sichtung der Unmengen von Akten überhaupt nicht zu denken. Immerhin entstanden eine ganze Reihe von den Bürgerkomitees zusammengestellte Berichte, die noch heute unverzichtbar für die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur sind.
Im nachhinein wird kaum festzustellen sein, was im Herbst 1989 an Aktenmaterial vernichtet wurde und was noch im Frühjahr aus den Dienststellen beiseite geschafft worden ist. Niemand wird vielleicht je erfahren, welche Informationen eigentlich auf den Magnetbändern gespeichert waren, die mit Zustimmung der Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches seit Februar 1990 vernichtet worden sind.
Doch selbst das, was schließlich übrigblieb und seit dem 3. Oktober 1990 von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen MfS/AfNS verwaltet wird, wird noch auf Jahre nicht nur Historiker, sondern auch die Öffentlichkeit in Atem halten.
Das Ende 1991 verabschiedete Stasiunterlagengesetz regelte nicht nur der Zugang zu den Akten für Einzelpersonen, sondern bestimmte auch die Schaffung eines Bereiches innerhalb der Behörde des Bundesbeauftragten, dessen Mitarbeiter die „Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes durch Unterrichtung der Öffentlichkeit über Struktur, Methoden und Wirkungsweise des Staatssicherheitdienstes“ zur Aufgabe haben.
Als eine Art Kernstück kristallisiert sich jetzt die Erarbeitung eines sogenannten „MfS-Handbuches“ heraus mit dem Obertitel „Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte – Struktur – Methoden“. Bisher sind drei Teillieferungen erschienen.
Sie verdienen schon deshalb nachhaltige Aufmerksamkeit, weil sie im Gegensatz zu einer Flut von Veröffentlichungen zum Thema Staatsicherheit durchweg auf intensiver Quellenarbeit basieren. Sehr zu begrüßen ist es, daß nicht die in der öffentlichen Diskussion so strapazierten Inoffiziellen Mitarbeiter das Thema einer der ersten Studien darstellen, sondern mit den Hauptamtlichen (Mitarbeitern) begonnen wurde.
Kaderrekrutierung in den 50er Jahren
„Determiniert waren die Grundmuster der Kaderpolitik und Kaderarbeit des MfS neben Parteigebundenheit und militärischer Struktur durch seinen Charakter als zentralisierter Repressions- und Sicherheitsapparat, in dem geheimdienstliche, polizeiliche und staatsanwaltliche Funktionen vereint waren... Dazu waren ,Tugenden‘ wie unbedingte Pflichterfüllung und Gehorsam, Verschwiegenheit, Fähigkeit zur glaubhaften Verkörperung legendierter Biographien, Führungsqualitäten gegenüber Inoffiziellen Mitarbeitern und Fähigkeiten zur Beeinflussung anderer Menschen, Vermeidung von Angriffspunkten für ,feindliche‘ Kräfte usw. herauszubilden“, schreibt der Autor Jens Gieseke am Beginn seiner Untersuchung. Das galt von der Gründung des MfS im Jahre 1950 bis zur Agonie im Herbst 1989. Unbestritten war die Partei- und Staatsführung der DDR daran interessiert, gerade für den Sicherheitsapparat Kader zu gewinnen, die sich im „antifaschistischen Widerstandskampf“ bewährt hatten. Doch bereits in den 50er Jahren zählte nur noch eine schmale Oberschicht innerhalb des MfS dazu. Zwar gibt es keine hinreichenden Belege dafür, daß in nennenswerten Umfang NSDAP- Mitglieder für die Staatssicherheit hauptamtlich tätig waren, aber aus der Altersstruktur ergibt sich eindeutig, daß auch in diesem Organ die HJ-Generation Mitte dominierte. So waren nach internen Angaben der SED 1957 mehr als 50 Prozent der Mitarbeiter unter 25 Jahre alt. Zweifelhaft erscheint in diesem Zusammenhang, daß die Vorbildwirkung der Kämpfer gegen das NS-Regime „zu einem guten Teil auch internalisiert“, das heißt von den jungen Kadern auch verinnerlicht wurde. Zumindest wirkt das von Gieseke angeführte Beispiel des stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit, Rudolf Mittig, wenig überzeugend, der im nachhinein seinen Dienst im MfS als „tätige Reue“ für seine frühere NS-Anhängerschaft ausgab. Mittig könnte ebenso als Beispiel dafür dienen, wie brauchbar im NS-Staat praktizierte „Tugenden“ auch im SED- Staat waren.
Möglicherweise wäre der Autor zu einer anderen Beurteilung gelangt, wenn er die Gründe für das Anwachsen der Mitarbeiterzahlen nach den Krisensituationen in der DDR-Geschichte umfassender analysiert hätte. Denn politische Ereignisse, so meint der Autor, hätten keinen „starken Einfluß auf die Einstellungszahlen gehabt“.
Aber das Gegenteil ist richtig, zumal der Autor selbst ausdrücklich auf den 17. Juni 1953 verweist, an dem das SED-Regime vor dem Zusammenbruch gestanden hatte, und auf den Mauerbau am 13. August 1961. Nach diesen beiden Ereignissen nahm die Mitarbeiterzahl überdurchschnittlich zu. Gerade weil das MfS aufgrund der strukturellen Gegebenheiten nicht in der Lage war, die heraufziehende Krise der Parteispitze früh genug zu signalisieren, erfolgte aber 1953 bis 1955 eine umfassende Reorganisation der Staatssicherheit. Dazu gehörte auch die Aufstockung des Mitarbeiterbestandes.
Nach dem 13. August 1961, so meint Gieseke, habe eine „sicherheitspolitische Lageentspannung“ in der DDR bestanden. Doch schon die wachsenden Häftlingszahlen, aber auch die umfangreichen Disziplinierungsaktionen in allen Bereichen der Gesellschaft belegen eindeutig, daß davon zumindest bis Ende 1962 keine Rede sein konnte, sondern eher das Gegenteil der Fall war. Am Ende der DDR waren es schließlich mehr als 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter, die die Parteiführung vor dem Volk schützen mußten.
Anders als Gieseke geht Bernd Eisenfeld in seiner Studie über die zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG) und die Bezirkskoordinierungsgruppe (BKG) vor. „Im Frühjahr 1975 erging die Weisung Mielkes zur Bildung einer ,Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG)‘, die gleichzeitig eine ,Prüfung‘ der Bildung von ,Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG)‘ vorsah. Ein knappes Jahr später wurde mit dem Befehl 1/75 zur ,Vorbeugung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels‘ vom 15. Dezember 1975 eine erste Grundlage für die Tätigkeit der ZKG geschaffen.“ Diese beiden Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit einem Phänomen, das während der gesamten Existenz der DDR in unterschiedlichem Maße die Partei- und Staatsführung beunruhigte: Flucht und Ausreise.
Flucht und Ausreise in den 70er Jahren
Mitte der 70er Jahre war die DDR- Führung im Interesse ihrer internationalen Anerkennung bemüht, die in diesem Zusammenhang eingegangenen Verpflichtungen zumindest nach außen möglichst einzuhalten. Dazu gehörten auch die Bestimmungen der KSZE-Schlußakte. Andererseits erging der „Kampfauftrag“ an die Genossen des MfS, einen „deutlichen Rückgang der Versuche der Übersiedlung und des ungesetzlichen Verlassens der DDR zu erreichen“.
Die zu diesem Zweck eingeleiteten Maßnahmen beschränkten sich nicht nur auf die unmittelbar Betroffenen, sondern wurden auch auf die Bundesrepublik ausgedehnt. So bestand einer der „Arbeitsschwerpunkte“ der ZKG im Jahre 1979 in der „Schaffung einer Gruppe Führungs-IM (FIM) in der Bundesrepublik“. Sie sollten unter anderem versuchen die Organisationen und Personen, die sich für Ausreisewillige in der DDR einsetzten, zu diskreditieren; „Desinformation und Verunsicherung des Gegners“, wurden diese Maßnahmen im MFS-Jargon genannt.
Trotz ständig steigenden Aufwands gelang es nicht, die Zahl der Ausreisewilligen zurückzudrängen, und auch ein „differenziertes Vorgehen“ brachte nur begrenzte Erfolge.
Zu Recht beschreibt Eisenfeld die Tätigkeit der beiden Arbeitsgruppen in der Zeit von 1983 bis 1989 als „Weg in die Sackgasse“, der in die Ereignisse des Sommers 1989 mündete: „Doch bereits die Massenflucht der Bürger der DDR über die ungarisch-österreichische Grenze und die ausufernden Besetzungen der bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau signalisierten, daß die Tage der DDR gezählt waren.“ Im Gegensatz zu Gieseke geht Eisenfeld eher chronologisch vor und bezieht auch das innen- und außenpolitische Geschehen stärker in seine Darstellung ein. Auch das Zusammenspiel der einzelnen Diensteinheiten auf ministerieller Ebene und ebenso zwischen der Zentrale in Berlin und den Bezirksverwaltungen wird bei Eisenfeld besser deutlich.
Mielkes Imperium im Herbst 1989
Aus der von Roland Wiedmann bearbeiteten Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit für das Jahr 1989 kann man entnehmen, welche Bedeutung die ZKG und die BKG im Verhältnis zu den anderen Diensteinheiten hatten.
Die Rekonstruktion der Strukturen des Ministeriums vor der Umbildung zum Amt für Nationale Sicherheit im Herbst 1989 war für die Herausgeber und Bearbeiter mit viel geduldiger Kleinarbeit verbunden: „Leider gehören auch Struktur- und Organisationsunterlagen zu jenen Dokumenten, die seit dem Spätherbst 1989 vorrangig vernichtet oder beseite geschafft worden sind“, heißt es im Vorwort. Unter anderem mit Hilfe von erhalten gebliebenen Telefonverzeichnissen wurden die dadurch entstandenen Lücken zu schließen versucht.
Eine noch ausführlichere und vielleicht endgültige Fassung des Organogramms läßt sich möglicherweise aus den noch der Erschließung harrenden Beständen erstellen. Bleibt zu hoffen, daß auch die beiden vorgenannten Autoren bei ihren weiteren Studien fündig werden und ihre Beiträge für die endgültige Fassung des „MfS-Handbuches“ noch überarbeiten können. Dazu wird die stärkere Einbeziehung von Materialien aus den Außenstellen, in denen sich die Bestände der ehemaligen Bezirksverwaltungen befinden, notwendig sein.
Durch die Berlin-Zentrierung bleiben die spezifischen Bedingungen auf Bezirks- und Kreisebene weitgehend unberücksichtigt. Doch gerade die „flächendeckende Arbeitsweise“ der Staatssicherheit erfordert, die unteren Ebenen stärker in die Untersuchung mit einzubeziehen. Unter diesem Gesichtspunkt sollte auch die bisher vorgesehene Gliederung des MfS-Handbuches – sie ist am Beginn jedes Bandes abgedruckt – möglicherweise erweitert, zumindest jedoch überarbeitet werden. Allerdings müßten auch den Forschern außerhalb der Behörde des Bundesbeauftragten die in den Beiträgen als bisher „unerschlossenes Material“ gekennzeichneten Bestände ebenfalls bald zugänglich gemacht werden.
„Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte – Struktur – Methoden. MfS- Handbuch“. Hrsg. von Klaus- Dieter Henke, Siegfried Suckut, Clemens Vollnhals, Walter Süß, Roger Engelmann
Jens Gieseke: „Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit“. Berlin 1995, 107 S., 10 DM
Bernd Eisenfeld: „Die Zentrale Koordinierungsgruppe Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung“. Berlin 1995, 52 S., 10 DM
„Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989“. Berlin 1995, 403 S., 20 DM
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