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Zigaretten, viel Kaffee und Rhythmusfehler: Fünf Studenten programmieren das virtuelle Gegenstück zur CeBIT im Internet. Die Netzmesse hat mehr Besucher als die reale CeBIT  ■ Aus Hannover Jochen Wegner

Heute haben wir zwei Dutzend Mails bekommen“, freut sich Mirko und klickt am Nixdorf ein Fenster auf, um sie zu lesen. „Right“, nuschelt Lutz mit der Lucky im Mund, die verqualmten Augen zusammengekniffen, und klappert zufrieden mit den Apple- Tasten. Auch Armin hat einen Apple und der quakt – wie immer, wenn er eine Eingabe nicht akzeptiert. „Quak“, äfft Armin ihn nach, „quak“, machen die anderen im Chor. Nur Mirko macht „o nein“ und rückt seine Nickelbrille zurecht: Ein Dutzend der E-Mails besteht aus ellenlangen Fehlermeldungen.

„Details“, befiehlt Armin, ohne den Blick vom Schirm abzuwenden – so wie es auf dem Button in der Dialogbox steht, die erscheint, wenn Windows ein Problem meldet. Wird der Knopf angeklickt, liefert das Betriebssystem nähere Informationen. Mirko grinst und liefert Details, als hätte man ihn angeklickt: „Die neue Version vom Veranstaltungskalender hat es nicht bis ins Netz geschafft. Oliver hat ihn gestern abend aus versehen an eine falsche Adresse geschickt.“ Armin dreht sich um: „O nein.“ Auch Tilman blickt jetzt von seinem Nixdorf auf und stimmt ein in den neuen Chor: „O nein“. „Right“, nuschelt Lutz, hört auf zu tippen und ascht ab: „Aber immer geschmeidig bleiben, ich schau mal nach, ob wir jetzt dank Oliver wirklich den alten Kalender drinhaben.“ Oliver sagt nichts. Sein Sessel vor der großen Silicon Graphics ist leer, nur ein kryptischer Zettel klebt am Schirmrand: „Update des internen Servers!“

Eine bleigraue Wolkendecke lastet an diesem Morgen auf Hannover. Das Meer bleigrauer Hallen schimmert durch die riesige Glaswand des Verwaltungskomplexes am Messegelände, die über fünf Stockwerke reicht. Vom Glasaufzug ganz emporgehoben, erreicht man am Ende einer Galerie Zimmer N518. Hier ist zur Zeit ein kleiner, kommunikationstechnischer Olymp – und Oliver, Mirko, Lutz, Tilman und Armin haben ihn erschaffen. Die fünf Studenten haben eine buntgewürfelte Transporterladung Computer auf 20 Quadratmeter gezwängt, vernetzt und ihr jenen Geist eingehaucht, der in diesem Jahr auch die größte Computermesse der Welt beseelt, die CeBIT in Hannover.

Alles dreht sich dort ums Internet, und ganz konsequent hat die Messe dank der Rechner in N518 ein Abbild im World Wide Web, der multimedialen Oberfläche des Datennetzes. Unter der Adresse „www.messe.de“ gibt es eine Datenbank der über 6.000 Aussteller mitsamt ihren Produkten, Messepläne, die Messezeitung, das Hannoveraner Kulturleben in den Zeiten der Messe, Stadt- und Reisepläne. Der Messe-Gottesdienst ist im Web und sogar das original bayerische Bierzelt, versehen mit einem Hinweis, wann dort im Dirndl bedient wird. Nur der bleigraue Himmel fehlt. Vielleicht auch deshalb registrierte die Netzmesse noch viel mehr Tagesbesuche als die reale: meist über 100.000.

Tilman ist heute als erster da, kurz nach sieben, trotz der Standparty-Tour gestern nach Messeschluß: „Zuerst waren wir bei Motorola was essen, dann in Halle 13. Dort geht immer der Punk ab.“ An den Namen der Netz-Firma mit Live-Band, bei der sie schließlich gestrandet sind, kann er sich nicht mehr erinnern. „Erst mal Kaffee“, seufzt er und gießt Wasser in die Maschine auf dem Fensterbrett, dem einzigen nicht vernetzten Gerät im Raum. „Das erste, was ich heute zu mir nehme, außer einer Magnesiumtablette“, sagt Tilman, der zur Jeans Sakko und Krawatte trägt, ohne die man auf der Messe nicht ernstgenommen wird.

Während der Kaffee durchläuft, schaltet Tilman in einem Bildschirmfenster das „Logfile“ zu, das die Besuche protokolliert, die gerade auf den Netzseiten stattfinden. Der Gästeparkplatz draußen vor dem Fenster ist noch fast leer, doch die virtuelle Messe hat immer geöffnet und geht mit den Zeitzonen um die Welt.

Die virtuelle Messe hat immer geöffnet...

Gerade noch lesbar ruckeln die Namen der Rechner durch, die im Moment zugreifen: Besonders viele mit der Endung „jp“ sind dabei, die für Japan steht, auch das südkoreanische „kr“ erscheint oft im Datenstrom, doch die meisten Namen haben heute morgen schon wieder das deutsche Suffix „de“. In einem anderen Fenster läßt sich Tilman aus dem Logfile parallel die Besuchszahl von gestern berechnen: 113.478.

Später kommt Mirko mit der Nickelbrille, wie immer im eleganten Anzug, kurz darauf trudelt auch Lutz mit der Trotztolle ein, ohne Anzug. „Ich geh' Frühstück holen, will jemand was?“, fragt Tilman. „Right“, sagt Lutz, „Brötchen und Lucky.“

Beim Frühstück entdeckt Mirko, der für die Post aus dem Internet zuständig ist, die vielen Fehlermeldungen in der E-Mail: Der Hauptrechner, auf den die virtuellen Besucher zugreifen, hat die Mail mit der aktuellen Version des Messe-Terminplans nicht bekommen, weil Oliver einen Zahlendreher in der Anschrift hatte. Das Update lief ins Leere, vielleicht genau so, wie heute morgen so mancher Krawattenträger, der seinen Rundgang beim Frühstück online geplant hat.

Während Lutz konzentriert durch die Webseiten blättert, um die veralteten Daten zu finden, interpretiert Tilman den Bodensatz der verirrten Fehlmails: „Die erzählen eine richtige kleine Geschichte. Oliver muß gestern immer wieder versucht haben, einen Brief abzusetzen. Die Uhrzeit in den Mailköpfen wird immer später.“ Kurz nach 19 Uhr hat Oliver in seiner Verzweiflung offensichtlich angefangen, sinnlose Testmeldungen zu schicken: „jlklkasd“ steht darin nur noch oder „jkldasd“. „O nein“, sagt Tilman nochmal, doch da läßt sich Lutz, der im Web-Terminkalender geblättert hat, entspannt in den Sessel fallen. „Right“, sagt er nur, und alle wissen Bescheid: Oliver muß es gestern nacht irgendwie doch noch geschafft haben, die aktuellen Daten sind drin. „Electronic punishing – das kann der besten Hausfrau passieren“, tröstet Armin mit dem Pferdeschwanz, der inzwischen auch aufgetaucht ist.

Lutz zündet die nächste Lucky und nuschelt: „Immer geschmeidig bleiben. Das war kein wirkliches Problem.“ Bei wirklichen Problemen, das weiß er, sagt Oliver, der normalerweise drüben an der großen Silicon Graphics für 50.000 Mark sitzt und manchmal minutenlang weiterschweigt, nachdem man ihm eine Frage gestellt hat, leise „Oh“ oder „Ooops“. „Dann haben wir ein Problem“, weiß Lutz. Aber Oliver ist nicht da. „Reagiert eigentlich die Kaffeemaschine noch?“, nuschelt Lutz und holt sich eine Tasse. „Darüber gibt es ein Logfile“, antwortet er auf die Frage, wieviel Kaffee und Zigaretten N518 am Tag umsetzt.

Der Parkplatz vor dem Fenster hat sich inzwischen mit Besucherautos gefüllt, auch das Besucher- Logfile fällt jetzt frei am Bildschirm vorbei. Die reale Messe hat geöffnet, und die vier beginnen wie jeden Tag mit dem Aktualisieren der Netzmesse.

Während Mirko die Dankespost aus Saudi-Arabien beantwortet und eine Familie Becker abschmettert, die bei ihm eine CD- ROM bestellen will, spielen sich die anderen gegenseitig die neuen Dateien der Messezeitung zu: „Gibt es schon einen Namen für den Vobis-Text?“, ruft Armin. Der Apple macht „quak“. „Right“, macht Lutz – im Laufe des Tages werden sich die beiden Laute immer ähnlicher. „Er heißt I-Wort.“ Schallendes Gelächter. Seit „Multimedia“ Wort des Jahres ist, sprechen sie vom Unwort nur noch als „M-Wort“, „Internet“ ist in N518 längst ein „I-Wort“.

Immer wieder klingelt das Telefon und Tilman sagt seinen „Standard-Disclaimer“ auf: „No, sorry, he is not in yet. He will call you back.“ Nein: Oliver, der auf der Silicon Graphics auch den „Nameserver“ betreibt, das zentrale Postamt der virtuellen Messe, ist immer noch nicht da. Wahrscheinlich hat er gestern wieder bis nach Mitternacht gehackt, während die anderen in Halle 13 gefeiert haben und damit die schlecht programmierte Stechuhr am Eingang verwirrt. Die meldet einen „Rhythmusfehler“, wenn Menschen nicht an dem Tag das Haus verlassen, an dem sie gekommen sind.

...und geht mit den Zeitzonen um die Welt

Auch alle Besucher der virtuellen Messe können beobachten, wie Tilman immer neue, gelbe Postix- Zettel an den Schirm von Olivers Silicon Graphics klebt. Auf der Workstation steht ab Werk eine kleine Kamera. Deren Live-Bild haben die fünf einfach ins Netz gestellt: Bei „www.messe.de/home/ index_d.html“ sieht man schon den ganzen Tag Tilman telefonieren und Zettel ankleben, ab und zu huscht Armin durchs Bild, rechts unten ist manchmal Lutz mit einer Lucky zu entdecken. Wenn Oliver da ist, verdeckt sein Kopf, der bei der Arbeit vor und zurück schnellt, den Schreibtisch von Lutz. Außerhalb der CeBIT-Zeit aber wird die Kamera auf den Parkplatz vor dem Haus gerichtet: „Dann müssen wir nicht vom Bildschirm weg, um unsere Autos zu überwachen.“

Oliver muß gleich kommen. Mirko hat am Spätnachmittag vor dem Fenster endlich den roten VW-Bus entdeckt. „Right“, sagt Lutz, der sich gerade eine neue Lucky anzünden will, und verzieht sich nach draußen auf die Galerie. Oliver mag es nicht, wenn geraucht wird.

„Na, gestern wieder einen Rhythmusfehler produziert?“, fragt Lutz, als der bärtige Oliver mit der dicken Brille den Raum betritt, in Jeans und Hosenträgern. „Jaah“, sagt Oliver gedehnt und gleitet in den Sessel vor der Silicon Graphics. „Noch Kaffee da?“, fragt er dann leise, und Tilman schenkt schnell ein. Oliver mustert die gelben Postix-Zettel, die inzwischen beide Monitorränder füllen, zieht am Schirm ein paar Fenster auf und versinkt in bedächtigem Tippen.

Um acht ist das Fenster im Netz, das N518 zeigt, zum Standbild gefroren. Die Messe-Partys haben begonnen. Nur rechts unten wippt ab und an noch Oliver hin und her, wenn er eine Bildschirmzeile nicht versteht. Heute gibt es wieder einen Rhythmusfehler.

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