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Castor und die Rituale

■ Die Regierung provoziert den Protest, den sie beklagt

Der Zeiger auf der nach oben offenen Empörungsskala vibriert heftig. Demokratie und Rechtsstaat schweben offenkundig in akuter Lebensgefahr. In den Gazetten und im Bundestag mutiert der beidseits wohldosierte Zusammenprall von Staats- und Volksmacht am Zwischenlager Gorleben nachträglich zum Bürgerkrieg. Keine Frage, das Echo tönt aufgeregter als sein Auslöser. Und es klingt so hohl wie nie. Mögen die Sesselpupser in den Amts- und Redaktionsstuben schäumend das wendländische „Gewaltritual“ beklagen oder abschätzig die Antiatomproteste zum „Brauchtum“ erklären – die Ritualisierung, die sich dahinter offenbart, läßt die Scharmützel im Wendland weit hinter sich.

Gegeben wird das seit 68er-Zeiten eingeübte Stück: Wir debattieren die Form des Protestes, nicht seinen Inhalt. Doch die Aufführung ist der Bühne, auf der sie spielt, längst nicht mehr angemessen. Schon nach der ersten Castor- Reise sanktionierte eine Mehrheit der Bevölkerung die Proteste, Gesetzesübertretungen inklusive. Sicherlich, Symbole – und der Castor ist in erster Linie ein Symbol – sind per definitionem „theatralisch“. Sie öffnen den Vorhang für das Spezielle, das Handgreifliche, wo das Allgemeine unhandlich und abstrakt bleibt. Der Castor steht für den Atomstaat insgesamt. Deshalb zielt das banale Argument, der Strahlenmüll müsse schließlich irgendwohin, ins Leere. Ernst nehmen wird man es erst dann können, wenn sich die Politik auf einen Zeitplan zur Abwicklung des Atomstaats verständigt hat.

Es ist der Sache wenig angemessen, Gorleben jetzt als „letzten mythischen Ort“ der Anti-AKW-Bewegung zu demaskieren, in der durchsichtigen Hoffnung, anschließend Mythen Mythen sein lassen zu können. Tatsächlich regiert die Bundesregierung in der Frage der Atomenergie seit mehr als zehn Jahren gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Auch dafür stehen Gorleben und der Castor. Längst geht es nicht mehr allein darum, wer in der Atomenergiedebatte recht hat oder unrecht. Die Haltung der Bevölkerungsmehrheit selbst ist heute das zentrale Argument gegen die Atomkraft. Eine Regierung, die den Souverän dauerhaft mißachtet, erzeugt den Protest, den sie anschließend lautstark verurteilt. Dagegen helfen auch keine Durchhalteparolen. Gerd Rosenkranz

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