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Im Ohr steht ein Embryo Kopf

■ Wenn nach der Ohrmassage der Magen gurgelt, ist das ein untrügliches Zeichen von Entspannung

108 Punkte hat der Mensch im Ohr. Einen Wetterpunkt zum Beispiel. Oder zwei Antisuchtpunkte. Daneben aber auch einen Punkt für (oder gegen?) Aggression, einen für die Leber, das Niesen und das Knie. Der das im Jahre 1952 behauptete, war der Franzose Dr. Paul Nogier. Er stellte sich vor, im Ohr liege umgekehrt ein Embryo. Den Kopf nach unten, die Füße oben, die Wirbelsäule knapp oberhalb der Ohrmuschel.

Nogiers Idee wanderte nach China und kam zusammen mit der Traditionellen Chinesischen Medizin wieder zurück. Im Ergebnis sehen wir heute zahlreiche mit Nadeln „gespickte“ Menschen, AllergikerInnen z.B. – Ohrakupunktur heißt ihre Hoffnung. „Nun sind aber viele Leute empfindlich gegen das Stechen.“

Die Person, die das sagt, möchte gerne anonym bleiben, um unlauterem Wettbewerb vorzubeugen. Nennen wir sie Gabriele S. Frau S., Therapeutin, Heilpraktikerin und Bremerin bietet als Alternative zu den Nadeln ihre Finger an: Sie geht demnächst mit einem Seminar zur „Ohrreflexzonenmassage“ in die Öffentlichkeit. Gestreßte, Ausgepowerte und Menschen mit Erregungszuständen und Konzentrationsschwierigkeiten sind dazu geladen. Die taz nahm schon mal Platz zu einem Vorab-Selbstversuch auf dem blütenweißen Sofa von Frau S.

„Ich frage zunächst einmal nach dem Warum?“ beginnt sie. Das ist der Moment für Lebens- und Krankheitsgeschichten. Aber die pure Neugierde auf Ohrenmassage geht hier auch noch durch. Oder Erfahrungsberichte vom Läppchenzupfen in Besprechungen. (Sehr gut: Das Ohrläppchen ist Embryo-Kopfzone, Zupfen aktiviert die Gehirnfunktionen.) Frau S. spricht ihrerseits das Thema „Ohrring“ an (ein einzelner in Gold soll die Sehfähigkeit verbessern). Ein Kunststoffohrmodell mit chinesischen Schriftzeichen wird erläutert und ein punktiertes Gummi-Ohr. Und dann sticht Gabriele S. zu.

Genauer gesagt drückt sie nur. Sie drückt ein Metallstäbchen mit Knopfsonden – sieht aus wie eins der ungeliebten Zahnarztgeräte – manuell im rechten Ohr auf Punkt 82. Das ist der Einschalter gleich in der Ohrmuschel, der „Null-Punkt“ Solar Plexus. Zwei Minuten wird der Punkt therapiert, durch den Druck entsteht ein kleiner weißer Rand auf der Haut. „Dann muß auf den Schmerz geachtet werden.“ Ein Glück, das tut schön weh. Sollte jemand nicht mehr reagieren, macht sich Frau S. ein klein wenig Sorgen und verwendet eine Ionen-Salbe zur Reaktivierung der Sensibilität.

Sie verhalte sich streng nach Herrn Günter Lange aus Kassel, einer Koryphäe im Bereich der Ohrreflexzonenmassage: „Das ist relativ ungefährlich und wie bei den Füßen – die Zonen trifft man eigentlich immer.“ Frau S. wird sanft und zeigt ihre kurzen Fingernägel. Dann schweigt sie. Es wird warm auf den weißen Sofakissen. Gabriele S. startet parallel an beiden Ohren „Umlauf eins“, schaltet also den Solar Plexus ein. Und damit sozusagen meinen Gehörgang ab.

Ein zunächst schwer definierbares Geräusch holt mich aus den Tiefen. Magengurgeln. Der Magen von Frau S. schließt sich an. (Gut: Ein Entspannungszeichen, lobt sie später.) Jetzt knistert es. Gabriele S.'s Fingerspitzen arbeiten sich langsam kreisend, leicht knetend, zwischendurch mal kurz anklopfend vom Läppchen außen entlang nach oben. Welche Punkte hatte sie genannt? Angst, Nase, Schwindel, Freude? Omega? Darwin? Es ist sehr angenehm.

Oben angekommen drehen Daumen und Zeigefinger der Dame um. Das Ohr ist mit den Gehirnnerven verbunden, hat sie erklärt. Die Reize werden über den Talamus geleitet, das Großhirn entscheidet dann, wieviel Reiz es weitergibt. Mein Becken sackt in die Sofapolster.

Da, ein Schmerz. Aber wo endet er? Frau S. zuckt persönlich zusammen, zieht die Finger weg und geht zu „Umlauf drei“ in der Muschel über. Es ist, als würde ich in Sisyphos-Manier in der Seilbahn die Zugspitze hoch und runterschaukeln. Der Druck läßt überhaupt nicht mehr nach. Doch dann wird es wieder ruhiger mit „Umlauf vier“, den Läppchen. (Mitleid an alle, denen sie angewachsen sind.)

„Bleiben Sie liegen“, sagt die Stimme von Frau S. plötzlich aus einer anderen Ecke des Zimmers. Der Augenblick des Reflektierens ist gekommen. Von der Treffsicherheit im Ungenauen hatte Frau S. gesprochen. Meßtechnisch sind die Ohrreflexzonen schwer zu beweisen. Die Meridiane der Akupunkturtheorie hat man auch noch nicht gefunden. Die Wirkung sei entscheidend, sagt Gabriele S., egal welche. Eine Wirkung? Vielleicht die, daß mir die Haare zu Berge stehen? „Kann sein, daß Sie gleich aufs Klo müssen“, bietet Frau S. an. „Auf jeden Fall sollten Sie heute viel trinken, ganz sicher wurde Ihre Blasenfunktion angeregt.“ sip

Das Ohrenmassageseminar für die Selbstbehandlung findet statt am Samstag, 15.6., 10 bis 14 Uhr, im „Klöntje“, Lahnstraße 37/39. Eine Anmeldung ist erforderlich,

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