piwik no script img

■ NachschlagYoko Ono: agile Schmerzensmutter

Die Sippschaft war schon seit ein paar Tagen in der Stadt. Yoko Ono hatte sich Baselitz angeschaut, und Sean Lennon erzählte am Freitag auf Kiss FM, er wolle sich ein bißchen in den Berliner Clubs herumtreiben. Dabei sieht er gar nicht wie ein fit trainierter Raver aus, sondern mehr wie ein langhaariger netter Moppel aus Amerika. Schüchtern stand er vorgestern im Loft auf der Bühne neben seiner Mutter, ließ sich als Sohn und Gitarrist ihrer Band IMA vorstellen; spielte danach ein wenig Grunge und Hardcore auf der Gitarre, glitt melancholisch über die Tasten eines Fender-Rhodes-Pianos oder schrie einfach nur zart, dünn und heiser aus dem Hintergrund. Den Rest besorgte Yoko Ono, vollständig und aus dem Stegreif.

Sicher wären nie so viele Menschen gekommen, wenn nur die Musik zählen würde – eine Mischung aus Acid Jazz, Punk und speckschweinchensüßem Hardrock, als hätten sich die Melvins ein bißchen an Jesse Rhoden, Vinegar Joe oder Steve Winwood versucht. Noch ein College-Team des White Trash: freundlich und volksnah, gewiß, aber nicht gerade exzentrisch. Nach zwei Stücken versteht man das Muster hinter dem old-school-mäßigen Rockrauschen.

Dafür allerdings lebte Yoko Ono sich in jedem Ton aus. Das Thema ihrer „Rising“-Tour hatte sie mit der Begrüßung umrissen: „Hallo Berlin, ich liebe euch sehr. Das Leben ist eine unheilbare Krankheit mit einer Sterberate von 100 Prozent.“ Und dann wurde retrogerockt, während die 61jährige, recht agile Schmerzensmutter atonal gurrte, gackerte oder zu den Worten „I'm dying“ quer über die Bühne turnte. Eine Buddhistin von wahrer Größe: Im schwarzen Anzug erinnert Yoko an einen kantigen Geschäftsmann; nach ein paar Stücken legt sie die Jacke ab und sieht im Top noch stürmischer und athletischer aus – K.D. Lang im Dyke-Queen-Look.

Geweint wird trotzdem. Ono beklagt, wie die Erde verdörrt, wie Menschen Herzen brechen und das Leben allgemein fremdgeht, was auf japanisch im Wort „kurishi“ zusammenfällt. Das flüstert, wimmert und stöhnt sie dann dutzendfach, bis merkwürdig klar wird, wie sehr Yoko Ono der Widerspruch selbst eingeschrieben ist. Lennon- Witwe, Fluxus-Artistin und Post-Rock-Ikone – wie soll das zusammengehen? Vermutlich gar nicht, so wie auch Band und Songs, mit denen sich Ono umgibt, als umgekehrter Antrieb funktionieren. Während sie mit ihrer Stimme in den Sound hackt, nehmen IMA Musikschnipsel und arbeiten sich begeistert daran ab. Harald Fricke

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen