piwik no script img

■ GlosseIdentität, hurra!

Es ist passiert. Plötzlich, unerwartet – im Südwesten, in Singen. Welche Veränderung zum gestrigen Abend, als ich mit Immigranten zum dreizehnten Mal das ihnen so wichtige Thema IDENTITÄT diskutierte! Ein Blick in den Spiegel des Hotelzimmers ließ keinen Zweifel: endlich hatte ich auch eine. Eine nationale Identität (über Nacht war mir ein kleines, dunkles Oberlippenbärtchen gewachsen) und eine kulturelle (während des Zähneputzens summte ich unvermittelt „Kein schöner Land“).

Mein schütteres Haar wirkte blonder an diesem sonnigen Morgen, das Kinn markanter, die grünen Augen irgendwie, ja wirklich, stahlblau. Wie konnte ich vierzig Jahre lang glauben, ich könnte ohne (deutsche) IDENTITÄT auskommen? Was für ein Narr war ich, zu hoffen, ausgerechnet mir könnte eine allseits entwickelte Persönlichkeit reichen? Etwas schüchtern nahm ich Kontakt mit meinem noch etwas ungewohnten Spiegelbild auf, flüsterte ihm zärtlich zu: „Ja, das bist du, ein Deutscher – mit deutscher Mama und deutschem Papa!“ Ein wohliger Schauer durchzuckte mich. Die IDENTITÄT veränderte mein Leben. Endlich einen Platz haben, endlich wissen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehöre ich?

Es war ein schöner Morgen. Zum Frühstück bestand ich auf Leberwurst, Preßsack und Graubrot (mit Kümmel). No more Oliven, never again Döner Kebab und Knoblauchwurst, trällerte ich leise lächelnd vor mich hin. Die Egerländer Musikanten gaben den Takt vor und brachten die Glückseligkeit meiner Kindheit zurück und über mich. Dankbar war ich den Einwanderern für die Diskussionen, ihre unermüdliche Suche und ihre harsche Forderung nach Wahrung ihrer IDENTITÄT. War ich doch auf dem besten Weg, mich an die Multikulti-Geschichte zu assimilieren. Sie haben mir geholfen, mich in dieser unübersichtlich gewordenen Welt wiederzufinden. Dank ihrer Hilfe kann ich mir wieder stolz (als Deutscher) in die Augen schauen. Dank ihrer Beharrlichkeit weiß ich nun, daß meine reaktionären Restbestände und mein heimlicher Konservatismus nichts Schlechtes sind, ich dies auch in Berlin nicht mehr verstecken muß. Im Gegenteil. Meine altbäuerlich geistige Trägheit, meine sentimentale Trauer um den Verlust von Heimat und der Kindheit haben nun einen Namen: IDENTITÄT. Endlich habe ich für mein altfränkisches Provinzlertum ein Qualitäts- und Gütesiegel gefunden. Ich stehe unter Denkmalschutz!

Sollten sich meine neudeutschen Nachbarn wieder einmal beschweren, wenn ich mit meiner Keglerrunde den Hinterhof mit „O du schöner Westerwald“ beschalle, lehne ich mich entspannt zurück und antworte: „Halt's Maul, Rassist, so sind wir Deutschen, das ist unsere I-D-E-N-T-I-T-Ä-T. Das brauchen wir, sonst bin ich traurig, zerrissen zwischen den Stühlen. Capito, amico?! Du verstehen?“

Mein Leben ist ruhiger geworden, seit ich eine IDENTITÄT habe. Warum noch gegen die Anti-Abtreibungs-Fundis in Bayern ankämpfen? So sind die halt da unten, das brauchen die für ihre Identität. Warum gegen völkische Jugendcliquen des Ostens protestieren? Det brauchen die für ihre Ostidentität. Ehrlich. Eberhard Seidel-Pielen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen