: Achtung, Achtung, Fritz! Ergib dich!
„Folglich befinden wir uns im Fußballkrieg mit Deutschland“: Wie Englands Boulevardpresse sich und das Land auf das heutige Europameisterschafts-Halbfinale gegen Deutschland einstimmt ■ Aus London Peter Unfried
Wie, liebe Hörer, können unsere Lads des Gegners Abwehr sprengen? Antwort: Einfach ein Streichholz hinhalten. Dann explodieren die Deutschen – wegen des vielen Sauerkrauts, das sie gegessen haben. So oder ähnlich geht das in den Privatradios.
Die Boulevardpresse ist auch nicht gerade unkreativ gewesen. Besondere Mühe hat sich der Daily Mirror gegeben. Deren „Botschafter“ hatte nach eigenen Berichten die Deutschen in Berlin ultimativ aufgefordert, ihr Fußball- Team aus Wembley zurückzuziehen. „Herr Vogts wollte nicht“, bedauert der Mirror, und „folglich befinden wir uns im Fußballkrieg mit Deutschland.“
Die Titelseite am Montag zeigte die als besonders national zu verwendenden Spieler Gascoigne und Pearce mit Stahlhelm. Unter der Schlagzeile „Achtung! Surrender!“ findet sich der schöne Satz: „For you Fritz, ze Euro 96 is over“.
Über den Chauvinismus der Boulevardpresse ist bekannt, daß er zum hauptsächlichen Zwecke der Auflagensteigerung benutzt wird. Bevor Englands Fußballer angefangen hatten, Spiele zu gewinnen, waren sie selbst die Opfer. Der Mirror aber hatte es ganz offensichtlich auf ein Überschreiten allerletzter Grenzen angelegt. Es gelang: Inzwischen hat sich der Herausgeber, wie einkalkuliert, entschuldigt und gestern das Geifern etwas zurückgenommen.
Es ist aber auch bekannt, daß der Versuch, mehr oder weniger latente Vorurteile zu bestätigen, Resonanz erzeugt, selbst wenn die Adressaten die Botschaft mit Hinweis auf die Quelle (etwa: „Ach, Bild-Zeitung“) vordergründig ablehnen. Und britische Vorurteile über die Deutschen gibt es so viele wie deutsche über Briten. Gerade hat eine neue Untersuchung ergeben, daß 78 Prozent der 10- bis 16jährigen Briten bei Deutschland an den Zweiten Weltkrieg denken, 50 Prozent an Hitler. Hätten sie die Wahl, würden die Schüler eher Bosnien besuchen als Deutschland.
Es haben sich auch Leute gefunden, die, wie Paddy Ashdown, Parteichef der Liberal Democrats, davor warnen, daß die nur vorgeblich ironische Kriegsberichterstattung tatsächlich einen Krieg vorbereite. Den auf den Tribünen von Wembley. Auch Martin Peters, Weltmeister von 1966, hat die Tabloids aufgefordert, damit aufzuhören.
Doch das ist so einfach nicht, in einem Land, in dem man sich den Unterschied zwischen militärischen und sportlichen Erfolgen nicht immer bewußt macht. Schon gar nicht, wenn es einen guten Witz hergibt. Daß die Deutschen nicht lachen können über solche Witze, liegt allein daran, daß sie keinen Humor haben. Nachdem die Qualitätszeitungen den Mirror schwer gescholten hatten, weil er in seiner Liste „zehn Dinge, die die Spanier der Welt gaben“, an Nummer eins Syphilis hatte, titelte nach dem gehaltenen Elfmeter des englischen Torhüters der Observer: „Seaman versenkt die spanische Armada.“ Man merkt: stilistisch liegen Welten dazwischen, die Metapher bleibt eine kriegerische.
Am Tag danach hat Matthew Engel im Guardian dazu aufgerufen, keinerlei Analogien mehr zu verwenden, die „in irgendeiner Weise den Zweiten Weltkrieg, John Majors Europapolitik und Fußball kombinieren.“ Danach hat er das gewonnene Elfmeterschießen mit Dünkirchen verglichen. Das war natürlich ironisch und mit großer Fertigkeit geschrieben – doch beschleicht einen der Verdacht, daß die Ironie um so weniger funktioniert, je öfter die Engländer gewinnen. Der Independent hat gestern dazu aufgefordert, die Deutschen zu mögen. Schlagzeile auf Seite 1: „Seid nicht gemein zu den Deutschen.“ Es handelt sich um ein Noel-Coward-Zitat, das am Ende des Artikels in einer Fußnote komplettiert wird: „...nachdem wir endgültig gewonnen haben“. Es kommt jetzt auch so heraus, als habe die Ironie bisher lediglich dem Verarbeiten von sportlichen Enttäuschungen gedient.
Jene dauern seit 30 Jahren an – und sind an wichtigen Eckpunkten mit den Deutschen verbunden. Das Finale von 1966 hat man gewonnen. Es dürfte niemanden geben, der das nicht weiß, da es seit Wochen täglich in Fernsehen, Radio und Zeitungen heruntergebetet wird. Zunächst klang das wie ein Festklammern an einer etwas zufälligen, singulären und keinesfalls wiederholbaren Fußnote der neueren Fußballgeschichte. Inzwischen steckt nicht nur der Anspruch, sondern die Überzeugung dahinter, ein Kreis werde sich schließen und Geschichte sich wiederholen. Daraus folgt notwendigerweise der Sieg heute gegen Deutschland.
Man wollte dieses Spiel, auch wegen der nach 1966 im wahrsten Sinne des Wortes erlittenen Niederlagen von León 1970, Wembley 1972 und Turin 1990. Soll keiner sagen, Fußballniederlagen ließen das kollektive Bewußtsein eines Landes unbeeinflußt. Die permanenten Fußballerfolge der Deutschen gingen einher mit relativen ökonomischen Erfolgen. Die Fußballerfolge aber, das glauben die englischen Sportjournalisten fest, sind entweder sportlich nicht zu rechtfertigen, uninspiriert oder ganz unerklärlich. Jedenfalls – die Analogie bietet sich an – in ihrer Regelmäßigkeit nicht verdient.
So gesehen macht die Vermischung zwischen Majors Beef-Politik und dem Fußballkrieg gegen Europa und speziell dessen Anführer durchaus Sinn. Daß Major Kohl nicht schlagen kann, ist längst klar. Es ist erniedrigend: Nun wird man sogar gezwungen (von den Europa dominierenden Deutschen wohl, implizierte gestern die Sun), heute in grauen Trikots zu spielen. Ein Sieg über die Deutschen muß her. Irgendeiner.
Daß der Fußball damit gleich auch noch Major und die Tories retten könnte, ist deren Hoffnung. Sie ist vage: Harold Wilson (Labour) hatte die Wahl 1966 schon am 31. März gewonnen. Nach dem WM-Sieg war seine Umfragemehrheit geschrumpft. Andererseits wurde 1970 vier Tage nach dem Viertelfinal-Aus von León gewählt: Wilson verlor gegen Edward Heath. Daß Englands Fußballer verloren, lag wahrscheinlich daran, daß Torhüter Gordon Banks eine Magenverstimmung hatte. Daß Wilson verlor, nicht notwendigerweise. Immerhin hatte er alles versucht und Banks kurz davor noch einen „Orden des Britischen Empire“ zugeschanzt.
„Who do you think you're kidding, Mister Hitman?“ So schrieb der Daily Mirror neben ein Foto von Jürgen Klinsmann, den das Blatt verdächtigt, trotz eines gerissenen Muskels heute England angreifen zu wollen. Abgesehen davon, daß „Hitman“ einen Berufskiller bezeichnet, handelt es sich wie bei der Kriegserklärung im Chamberlain-Timbre („Pearce in our time“) um einen Bezug zu Nazi-Deutschland. Das Original: „Who do you think you're kidding, Mister Hitler?“ Der Münchner Fußballprofi Jürgen Klinsmann – ist Adolf Hitler. Mit Ironie hat das nichts zu tun.
Aber ein Klinsmann läßt sich auch durch einen Hitler-Vergleich nicht aus der Balance bringen. Gestern überreichte ihm der Mirror im Zuge eines überraschenden Friedensangebots einen Freßkorb („Peas in our time“). Klinsmann sagte: „No hard feelings“ und strahlte wie eh und je. Aber Klinsmann ist verletzt, und selbst Beckenbauer sagt, die Deutschen hätten heute keine Chance.
„Alle, die an Europa glauben“, hat Mike Ticher bereits am 8. Juni in der taz geschrieben, „können nur hoffen, daß England nicht Europameister wird.“ Aber wer soll sie bremsen? Vielleicht die Franzosen? Was fällt eigentlich englischen Schülern zu Frankreich ein? Erstens: Froschschenkel. Zweitens: Schnecken. Gut möglich, daß Englands Zeitungen morgen da auch schon draufgekommen sind.
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