■ Sonntag abend, 19 Uhr: Die Masseure im Wembley-Stadion legen letzte Hand an strapazierte Waden. 19.55 Uhr: Es erklingen die deutsche und die tschechische Hymne. 20 Uhr: Das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft beginnt
: Spaß oder Nichts

Sonntag abend, 19 Uhr: Die Masseure im Wembley-Stadion legen letzte Hand an strapazierte Waden. 19.55 Uhr: Es erklingen die deutsche und die tschechische Hymne. 20 Uhr: Das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft beginnt

Spaß oder Nichtspaß?

Droben im Londoner Norden, genauer gesagt in Bayswater auf der Queensway, steht ein Pub mit dem schönen Namen „Prince Alfred“. Wenn man da drin ist und Pech hat, spielt irgendein Django „I shot the sheriff“. Der Rhythmus kommt aus der Maschine. Es ist sicher nicht die wahre Sache. Aber da die Leute tanzen, daß die Tische wackeln, muß es irgendwie wohl auch okay sein.

Vermutlich verhält es sich mit dem deutschen Fußball auch so. Oder so ähnlich.

Ob sie nun morgen abend (20 Uhr, ZDF) das Finale gegen die Fußballer der Tschechischen Republik gewinnen oder nicht: Die Deutschen haben bei dieser EM den Standard des europäischen Fußballs definiert. Und das ist keine optimistische Zukunftsverheißung.

Überleben im Jahr 2000? Man muß Abstriche machen. Gewaltige Abstriche. Man darf kein Träumer sein. Man muß bescheiden sein. Man muß funktionieren. Nicht zu funktionieren ist da fast schon Anarchie.

Der DFB-Trainer Berti Vogts, 49, wiederum hat seit eineinhalb Jahren erzählt, der Erfolg definiere sich darin, mitreißenden Offensiv-Fußball zu spielen. Als es darauf ankam, wollte Vogts nur eins: überleben! Man muß nicht jedesmal auf die prägende Kindheit des Vollwaisen Vogts verweisen. Hier schon.

Man kann daraus nämlich ableiten: Dieser Mann weiß, was es heißt, Abstriche zu machen. Weil der Bundestrainer überleben wollte, suchte und fand er Jürgen Klinsmann, Thomas Helmer, Matthias Sammer. Es sind die Spieler, die den Unterschied machen. Doch immer innerhalb der Ordnung. „Jürgen ist mein Kapitän“, pflegt Vogts seit drei Wochen zu sagen, „und ich bin froh, daß ich ihn habe.“ Er sagt die Wahrheit. Klinsmann bestimmt, wer wann was nicht sagt. Auch das ist ein Überlebensprinzip: Ein Fußballteam ist immer nur so gut wie seine Presse. Das Hauptkriterium, das Kli-Hel-Sam vom deutschen Neben-Nationalspieler haben wollen: Verläßlichkeit. Das bezieht sich auch auf die Defizite.

„Ordnung“ ist sicher nicht zufällig das Lieblingswort von Berti Vogts. Es ist sein ganzes Leben. Die Ordnung der Deutschen hätte einen außergewöhnlichen Fußballer gar nicht zugelassen. Stefan Effenberg ist der Beste weit und breit; seine Qualitäten aber sind nicht verläßlich. Hätte er zu gut gespielt, wäre die Hackordnung Kli- Hel-Sam durcheinandergeraten. Kli-Hel-Sam wollten auch Basler nicht haben. Er versteht den Sinn der Ordnung nicht, er will bloß Fußball spielen. Klinsmann-Helmer-Sammer wissen, daß es nicht um Fußball geht: Es ist ihnen zu dumm mit ihm.

Johan Cruyff sagt, daß der Stil eines nationalen Fußballteams den Charakter eines Landes widerspiegle und geprägt sei von der jeweiligen Zeitströmung. Also, bitte: Der Charakter dieses Landes ist folglich: Eilts!

Wenn in den Tagen von Manchester die Stimmung bei deutschen Anhängern am besten war, sangen die: „Es gibt nur einen Dieter Eilts.“ Das war ironisch gemeint, etwas resignativ, aber es zeigt auch ihren Pragmatismus. Es ist kein Zufall, daß gerade der unerbittliche Fußball-Realo Franz Beckenbauer als erster angefangen hat, den Bremer Grätscher emporzuloben. Dieter Eilts ist das, was man fälschlich einen „modernen“ Fußballer nennt. Also keiner. Eilts ist organisiert.

Wer aber Eilts einen Querpaß spielen sieht, der weiß: Utopisten haben keine Chance im nachsozialistischen Zeitalter. Das mag einige verzweifeln lassen. Die Mehrheit reagiert darwinistisch und disponiert um: Ihr Herz schlägt nun halt schneller, wenn der Ostfriese eine Grätsche perfekt getimed hat.

Vielleicht gibt das ja doch eine Parabel ab: Die Deutschen haben ihr Mittelmaß immer noch am besten im Griff, weil sie eilts sind, das meint, am emotionslosesten und daher effizientesten damit umgehen. Andere wollten wie die Deutschen sein. Sie scheiterten, weil sie das Mittelmaß nicht akzeptieren wollten, wie Engländer und Holländer, oder ihm zu sehr gehuldigt hatten, wie Spanier, Franzosen und Italiener. Rumänen, Bulgaren und Russen hatten keine Chance, weil ihre Neuorientierung noch nicht abgeschlossen ist. Das materialistische Ordnungsprinzip funktioniert noch nicht, weil die Verdienstspanne zwischen Chef und Schergen den „Charakter der Mannschaft“ (Vogts) untergräbt.

Ein besonders tragischer Fall sind die Holländer. Johan Cruyff sagt, sie könnten vom Nationalcharakter her nicht defensiv spielen. Auch Trainer Guus Hiddink redete ständig vom „totalen Fußball“, doch eigentlich suchte auch er im Rückzug auf konservative Kräfte das Überleben zu sichern. Die Utopie ist bei Ajax Amsterdam angedacht: Doch daß eine Rettung Europas aus einer anderen Welt kommen könnte, verwarf Hiddink in dem Moment, als er den schwarzen, aus Surinam stammenden, Edgar Davids, einen kreativen Fußballer, opferte – eines weißen Rationalisten zuliebe, dessen Name Blind ist. Der Ordnung halber sei es angefügt: Blind wäre mit Sicherheit auch bei Berti Vogts eine „Führungsperson“. Peter Unfried, London