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Kann man in der Passage küssen?

taz-Serie „Das Verschwinden des öffentlichen Raums“ (Teil 3): Der Trend zu Passagen hält an. Der geordnete Konsum im Privaten stößt aber kaum auf Gegenliebe  ■ Von Uwe Rada

Henry Cobb, der in Ecken und Kanten vernarrte Architekt des Quartiers 206, hat wie jeder, der von sich reden machen will, eine Vision von der Mitte: Die unterirdischen FriedrichstadtPassagen, erklärt er kurz und bündig, „sind von der Lage, der Nutzung und Gestaltung der Mittelpunkt der Friedrichstraße“. Auch Roland Ernst, schwergewichtiger Bauunternehmer des Quartiers 207, ist optimistisch: „Bald möchte keiner der letzte sein, der eine Niederlassung in den FriedrichstadtPassagen eröffnet.“

Daß die Architekten und Investoren der drei Friedrichstraßenblöcke ihr Projekt nach den unterirdisch verlaufenden Passagen nennen, verweist nicht nur auf die Euphemisierung des zeitgenössichen Baugeschehens, bei der blutleere Plätze zu Piazze schöngeredet werden. Es ist auch ein Hinweis auf die Zugkraft des vermeintlich klangvollen Namens „Passage“.

Das „Angebot öffentlichen Raums auf privatem Gelände“ (Jonas Geist) feiert im Warenkorb der Architekten in der Tat fröhliche Urständ. In der Frankfurter Allee locken seit Jahresbeginn ein Passage, eine Plaza und ein Center in die trockene und abschließbare Welt des Konsums. In der Steglitzer Schloßstraße läßt sich die Galleria durchs gläserne Gewand schauen und am Potsdamer Platz soll neben der debis-Mall gar ein futuristisch überdachtes „urban entertainment center“ die Konsumenten in den Bann ziehen. Im Kampf um die paar Mark, die der Kunde am Standort Berlin noch in der Tasche hat, hat das Warenhaus mit seinem Hang zum Vollsortiment aus der Sicht der Investoren ausgedient. Spezialisierung und „Erlebnisshopping“ inmitten der Accessoires des Städtischen liegen dagegen voll im Trend.

Stadtplaner und Politiker, wie der ehemalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann haben bereits seit längerem gewarnt: Mit den Passagen und Einkaufszentren, so ihre Befürchtung, werde die Straße entwertet und auf ihre reine Verkehrsfunktion reduziert, der öffentliche Raum gewissermaßen von der Stadt in ihre Gebäude geleitet und damit privatisiert. Ob die Rechnung der Investoren und mit ihr die Befürchtungen der Passagengegner aufgehen, darf freilich bezweifelt werden. Glanzlosigkeit und Elend der Ku'damm-Passagen hätten die Investoren eigentlich eines Besseren belehren müssen.

In der City-Passage etwa, der zur Knesebeckstraße gelegenen östlichen Seite des Ku'damm Karrees, stößt man allenthalben auf schummrige Beleuchtung in noch schummrigeren Kneipen. Außer ein paar Jugendlichen, die hier herumlungern, verirrt sich kaum einer hierher. Die zum Ku'damm gelegenen Einrichtungen des Karrees, die, wie das Theater am Kurfürstendamm, nicht den Ladenschlußzeiten unterliegen, sind sogar durch eigene Zugänge von der Straßenseite aus erschlossen. Das Karree, so scheint es, nimmt sich als Passage selbst nicht ernst. Das spüren auch die potentiellen Kunden. Während in den schäbigen Durchgängen trotz des Faceliftings durch die neue Wegert-Galerie eine beinahe bedrückte Stimmung herrscht, geht man draußen am Kurfürstendamm wie immer seiner Wege: geschäftig oder neugierig, provinziell oder betont hauptstädtisch. Städtisch eben.

Nicht anders ergeht es der Gloria-Passage. Selbst der städtebauliche Durchbruch zur Kantstraße brachte der bis dahin blinden „Passage“ nicht den erhofften Durchbruch bei den Kunden. Statt dessen kündet die Neonröhrenschrift an den Eingängen – „Zur Kantstraße“ und „Zum Kurfürstendamm“ – davon, wie die Passage genutzt wird: nicht zum Einkaufen, sondern als Abkürzung zwischen den beiden Straßen.

Und Düttmanns Ku'damm Eck schließlich, ohnehin keine Passage, sondern ein amorphes Shop-in- Shop-Gebilde, dessen größte „urbane“ Leistung es war, die Atmosphäre des Bahnhofsviertels hin zum Kurfürstendamm zu verlängern, soll demnächst abgerissen werden. Geplant ist ein Fünfsternehotel.

Jedes Bedürfnis, so es nur lukrativ genug erscheint, schafft sich seinen Raum. Diese Banalität stand, wenn man so will, am Anfang der Passagengeschichte. Architektonische Innovation (die Verwendung von Eisen und Glas als konstruktiver Elemente) und die Entdeckung des Konsums durch eine neue städtische Mittelschicht bereiteten im Paris des frühen 19. Jahrhunderts (mit seinen Straßen ohne Trottoirs) den Boden für einen Bautyp, der dort, wo er noch existiert, tatsächlich etwas von dem Luxus vermittelt, mit denen man die Passagen gemeinhin verbindet.

Von Pariser oder Mailänder Luxus kann in den Passagen der Postmoderne – aller Suche nach dem individuellen Kauferlebnis und den das Städtische simulierenden Dekorationen zum Trotz – keine Rede mehr sein. Vielmehr herrscht in den Passagen – so sie nicht ohnehin der B-Ebene eines x-beliebigen Hauptbahnhofs gleichen – die gleichmacherische „Kultur“ der Filialisten und Franchiser. Die Bennetons und Hennes & Mauritz, denen offenbar jede Miete recht ist, um sich nur in den 1a-Lagen zu plazieren, vermitteln nicht nur Langeweile, sondern auch das Gefühl, daß man eine Passage in Berlin von einer in Dessau nicht mehr ohne weiteres unterscheiden kann. Die Überraschung, die dem Passanten im städtischen Raum noch immer entgegenschlägt, die Hoffnung auf eine Entdeckung hinter der nächsten Straßenecke, weicht hier der Enttäuschung, exakt das zu finden, was man erwartet. Jede Markthalle ist da aufregender.

Diese Uniformität wird auch vor den „FriedrichstadtPassagen“ nicht haltmachen, obwohl die städtebauliche Ödnis der Großblöcke – anders als beim Kurfürstendamm – eher geeignet ist, das Volk in den Untergrund zu treiben. Aber auch dort, so steht es angesichts des „oberirdischen Angebots“ zu erwarten, wird man kaum etwas finden, was es in der Neuköllner Karl- Marx-Straße oder in der Weddinger Müllerstraße nicht schon gibt.

Die kurzsichtige Logik der schnellen Kapitalverwertung, die Mißachtung aller städtebaulichen Regeln der Nutzungsmischung, ist den Investoren schon jetzt auf die Füße gefallen. Zweimal bereits mußte die Eröffnung der „FriedrichstadtPassagen“ verschoben werden. Doch die zögernde Haltung möglicher Filialisten ist nicht der einzige Grund, warum die „FriedrichstadtPassagen“ von Anbeginn an unter keinem guten Stern standen. Berlin ist einfach kein gutes Pflaster für Passagen.

Bereits bei der ersten Berliner Passage, der 1873 eingeweihten „Kaisergalerie“, die die Ecke Friedrich-/Behrenstraße mit den Linden verband, kratzte es von Anfang an unterm Glasdach – und dies, obwohl der Kaiser persönlich in der „Passagen-Gruppe“ saß. Otto Glagau, ein zeitgenössicher Betrachter berichtet: „Auf der Passage ruhte von vorneherein ein Fluch. Nur mit Not gelang es, die Läden zu vermieten, nachdem man die zuerst in Aussicht genommenen Mieten bedeutend herabgesetzt hatte. Die Konzerte verunglückten, die Festsäle blieben leer, die großen Restaurants in den oberen Etagen fanden bald keine Pächter mehr.“ Peter Mugay erwähnt in seinem Friedrichstraßenbuch, daß die erste Jahresbilanz der Passagenaktionäre deprimierend ausgefallen sei. „Sie hatten zubuttern müssen. Und die Berliner blieben fern. Höchstens Auswärtige schlenderten hindurch, guckten hier, kauften dort etwas.“

Noch schlechter als der Kaisergalerie, die sich durch eine Verbesserung des kulturellen Angebots bald wirtschaftlich erholen konnte, ging es dem 1908/09 erbauten Passagenkaufhaus, dem heutigen Tacheles. Nur fünf Jahre dauerte es, bis der Betreiber pleite ging. Das Haus wurde fortan von der AEG als Haus der Technik genutzt.

Und hätte nicht der Senat 1974 das Gelände des von der Skandalarchitektin Sigrid Kressmann Zschach gebauten Ku'damm Karrees kurz nach der Fertigstellung 1974 für 22,7 Millionen Mark gekauft, die Serie der Pleiten und Pannen hätte sich auch in Wirtschaftswunderzeiten fortgesetzt.

Auf die wirtschaftlichen Risiken der Passagen hat Jonas Geist bereits 1969 in seinem Standardwerk über diesen „Bautyp des 19. Jahrhunderts“ aufmerksam gemacht: „Das spekulative Moment“, schreibt Geist, „das Risiko, ist für die Passage wesentlich und nur schwer durch genaue Kalkulation und geschickte Plazierung zu verhindern.“ Die Gründe für Mißerfolg oder Erfolg der Passagenprojekte seien dabei vor allem aber außerhalb des Projekts zu suchen: „Veränderung in ihrer Umgebung, in der Zusammensetzung des Publikums und der Wandel des Raumsgefühls sind einige dieser Gründe.“

Diese Veränderungen betreffen die Friedrichstraße zuerst. Zwar wird die Magistrale, „einem unendlichen Strahl gleich“, noch immer gerne als Sinnbild für die Lebendigkeit städtischen Lebens zitiert. Selbst Kurt Tucholsky, der sich „eine Villa im Grünen, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“ wünschte, konnte sich diesem Hang zur Stilisierung nicht entziehen. Doch schon in den zwanziger Jahren war der „glühende Buchstabentaumel“ (Siegfried Kracauer) nur noch ein Abbild seiner selbst und wurde zum Mythos. Kein anderer als der wiederentdeckte Flaneur Franz Hessel hat 1929 darauf hingewiesen: „(In) der heutigen Friedrichstraße gespenstert wenig von dieser Vergangenheit. Ihr Nachtleben ist ja längst von dem westlichen Boulevard (dem Kurfürstendamm, d. R.) überboten. Und was davon noch vorhanden ist, reizt mehr den Provinzler als den Berliner Bummler. In einigen Nachtlokalen kann die heutige Jugend vielleicht noch ironisch studieren, was früheren Generationen Spaß gemacht hat.“

Franz Hessel war es auch, der Walter Benjamin ermuntert hat, die europäische Kulturgeschichte am Beispiel der Pariser Passagen aufzuschreiben. Doch Benjamin beschrieb in seinem fragmentarisch gebliebenen „Passagenwerk“ nicht nur den Typus des aufkommenden Flaneurs in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, er berichtete im Zusammenhang mit der zunehmenden gesellschaftlichen Mobilität auch von einem „Schock“ über das Verschwinden des öffentlichen Raums. Mit der Zurichtung des Stadtraums auf den Konsum hat der Stadtraum als Aufenthaltsort der unterschiedlichsten Gruppen und Individuen ausgedient – aus dem theatrum mundi wurde ein theatrum konsumendi: „Die brutale Gleichgültigkeit“, schreibt Benjamin, „die gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen tritt um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.“

War dieser Kulturschock nach Andreas Feldtkeller mit ein Grund dafür, daß die Reste innerstädtischer Quartiere mit ihrer städtischen Öffentlichkeit der Moderne trotzen konnten, so scheint derzeit ein zweiter Schock über den Verlust des Öffentlichen am kollektiven Unterbewußtsein zu zehren. Der Versuch, amerikanische Bilder des Privatkonsums gegen die öffentliche Struktur der europäischen Stadt zu setzen, so scheint es, evoziert eine regelrechte Abwehrhaltung gegenüber den „öffentlichen Angeboten auf privatem Raum“.

Während die Shopping-malls in den USA die ökonomische Antwort der Investoren auf das Sicherheitsbedürfnis der kaufkräftigen Mittelschicht angesichts steigender Kriminalität war, wird das strenge Reglement in den Passagen (deren räumliches Erschließungssystem einst den Gefängnisbau revolutionierte) als störend empfunden. Selbst im Europa-Center, um dessen Kundschaft – anders als beim Ku'damm Karree oder der Gloria- Passage – noch gekämpft wird, verbreiten Wachschützer und Überwachungskameras weniger ein Gefühl von Sicherheit als Sterilität. An das Vokabular des öffentlichen Raums dagegen, dessen sich die Erbauer postmoderner Konsumwelten so gern bedienen, erinnern allenfalls ein paar Wegweiser.

Berlin ist eben nicht Los Angeles, wo in Bunker Hill eine künstliche Konsumwelt für die Mittelschichten die radikale Spaltung der Downtown in eine erste und eine dritte Welt markiert. Der Ku'damm mit seinen breiten Bürgersteigen und seinem tatsächlich urbanen Hinterland ist dafür beredtes Beispiel. Allen Unkenrufen und den Warnungen der AG City vor Schmutz und Kriminalität zum Trotz: Nicht der Kurfürstendamm ist tot, sondern seine Passagen sind es.

So sehr auch die neuen urbanen Mittelschichten die Inzenierung des Städtischen lieben, etwas „authentischer“ als die kalte Kunstwelt der Malls muß sie schon sein. Daß der zweite Schock des Verschwindens ausgerechnet von denen ausgeht, um deren Geldbeutel sich die Investoren bemühen, ist der Preis, den die Investoren für ihren Versuch, öffentlichen Raum zu entwerten, zahlen müssen.

Die Abneigung gegenüber den Passagen, die ausgebliebene Befürchtung der Kritiker, der Straßenraum werde entwertet, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß öffentlicher Raum durch die hohe Bebauungsdichte und den Verwertungsdruck gar nicht erst entsteht. Eine spannende, widerspruchsreiche Mischung der Nutzungen bleibt in der City noch immer die fromme Hoffnung einiger Rufer in der Wüste.

Daß die Einöde städtebaulicher Monostrukturen jede Regung städtischer Lebendigkeit zur Exotik verdammt, darauf hat schon in den siebziger Jahren die Schriftstellerin Brigitte Reimann hingewiesen. Angesichts der Plattengewitter in Hoyerswerda hat sie die Gretchenfrage des öffentlichen Raums formuliert: „Kann man in Hoyerswerda küssen?“ Genau das steht zur Debatte. Am Potsdamer Platz wird man einmal, wenn überhaupt, auch das Küssen inzenieren. Das Wechselspiel von privat und öffentlich, das die Stadt so lebendig macht, wird dort ebenso fehlen wie in der Friedrichstraße mit ihren unterirdischen „Passagen“.

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