: Erhalt des Sozialen
Die Debatte über den Verlust des öffentlichen Raumes legt den Finger auf die Wunde, die uns am stärksten den Preis der Hauptstadtentwicklung spüren läßt. Aber sie bleibt ein Scheingefecht. Sind es denn wirklich die Räume, die privaten sowie die öffentlichen, die uns das ersehnte Lebensgefühl geben werden? Oder ist nicht eher die Entwicklung dieser Räume selbst Ausdruck für eine Gesellschaft, in der die Entfremdung des Menschen von seinen natürlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen materialisiert wird?
Im Kern ist es die Frage danach, wie sich eine Gesellschaft in den Raum baut und wie sie mit der vorgefundenen Geschichte umgeht.
Was macht einen Stadtraum so spannend, daß wir ihn immer wieder aufsuchen, am liebsten dort wohnen würden? Vorn den Gardasee und hinten die Alpen, abends das pralle Nachtleben, aber wenn ich müde bin, dann soll auch die Stadt schlafen und mich morgens mit Vogelgezwitscher und Brötchenduft wecken. Ich fahre (als einzige) dann mit dem Auto zur Arbeit, meine Kinder kann ich zum Spielen einfach rausschicken, und Einkaufen ist immer ein Erlebnis, denn ich wandle die Straße entlang, treffe Leute, mit denen ich schwatze, und werde dennoch nicht schief angesehen, wenn ich mit blauen Locken und dem dritten Liebhaber in dieser Woche aus der Haustüre komme.
Wer hat denn in dieser Stadt welche Chance, sich den Raum anzueignen? Gern wäre ich Anarchist und würde um Tacheles kämpfen. Nur fehlt mir die Illusion, daß dadurch diese Stadt auch lebenswerter für die Mehrheit der Bewohner wird.
Der Verlust der besonderen Lebensqualität der Altbauquartiere in Ostberlin ist doch wesentlich komplexer als der Verlust der öffentlichen Räume. Was uns fehlt, fällt uns erst dann auf, wenn wir es nicht mehr haben, Räume nicht mehr in gewohnter Weise benutzen können.
Verantwortlich dafür sind nicht nur die Räume, die sich ändern, sondern eine Gesellschaft, die ihr Zusammenleben nicht über den Gebrauchswert der Räume, sondern ihre Verwertbarkeit regelt?
Was ist eigentlich Urbanität? Die Chance, an einem Ort möglichst vieles gleichzeitig zu tun, zu erleben, oder vielmehr die städtische Lebensweise der Gesellschaft, die weder soziale Segregation als Manifestierung sozialer Unterschiede noch die totale Verwertung des Raumes unter privatwirtschaftlichen Interessen kennt.
Gibt es eine Individualisierung ohne die Möglichkeiten umfassender Vergesellschaftung, und ist diese eben nicht durch Räume, sondern gesellschaftliche Verhältnisse zu definieren?
Bleibt diese Betrachtungsebene ausgeblendet, wird der Stadtraum und auch der öffentliche Raum nur noch zur äußeren Inszenierung von Lebenswelten.
Schon Hans-Paul Bahrdt hat in den sechziger Jahren versucht, mit der Polarität von Öffentlichem und Privatem das Städtische zu definieren. Es ist ihm nicht gelungen. Vielleicht ist ja der Begriff Öffentlichkeit auch gar nicht dazu geeignet, das Phänomen zu beschreiben, das uns vor der „Unwirtlichkeit der Städte“ schützen soll. Sind es nicht vielmehr die Menschen, die glücklich, zufrieden und ohne Existenzängste nebeneinander leben und eine Stadt so spannend machen, da sie den anderen, den Alten, den Jungen, den Farbigen als eine spannende Situation erleben lassen? Interessiert mich wirklich nur der Raum oder nicht viel mehr die Möglichkeit der Begegnung? Muß ich denn wirklich unter meinesgleichen im Stadtraum sein, in segregierten Räumen einen Lebensstil zelebrieren? Hab' ich das nötig? Nein, ich laß' mich nicht von Bourdieu bis auf die Unterhose festlegen, ich gehöre noch zu keinem Lebensmilieu mit genau definierten Ansprüchen und Automarken, ich bleibe gespannt auf das andere, das Fremde, solange ich keine Angst haben muß, daß die Zukunft ungewiß und der Handlungsrahmen chancenlos ist.
Die ganze Diskussion über die Urbanität und den Verlust des öffentlichen Raumes ist die bloße Umkehr der privaten Aneignung städtischen Raumes, ohne die tatsächlichen Mechanismen zu beleuchten, die uns in diese absurde Situation gebracht haben. Zur Erinnerung, Aneignung hat auch immer etwas mit Eigentum zu tun. In einer Gesellschaft, in der der Privatbesitz zum Heiligtum ernannt wurde, ist auch der öffentliche Raum, egal, wie perfekt man ihn inszenieren wird, keine wirkliche Kompensation für den Verlust sozialer Beziehungen, vielschichtiger Nachbarschaftsverhältnisse oder solidarischer Verhaltensnormen. Wer hat denn wirklich eine Chance, sich frei zu entscheiden, wie er leben oder wo er wohnen möchte?
Reichtum als Anhäufung von Privatbesitz kann darum auch niemals eine wirkliche Alternative zum Reichtum an Beziehungen darstellen. Da wird auch der öffentliche Raum die Chance verspielen, wenn nicht die Lebensräume verteidigen, die gegenwärtig von der „urbanen Minderheit“ verdrängt werden.
Dennoch sind öffentliche Räume eine Chance, damit sich die Menschen begegnen, um sich ihrer Situation bewußt zu werden und gemeinsam darüber nachzudenken, wie sie zum Subjekt ihrer Geschichte werden. Aber diese Subjektwerdung beginnt nicht mit der Gestaltung der Räume, sondern mit der Verteidigung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Einsicht, daß die Komplexität der städtischen Entwicklung nicht durch kleine Nischen zu beherrschen ist, läßt mich deshalb in täglicher Kleinarbeit die wirklichen Handlungsspielräume suchen.
Die Anarchie von Tacheles wird die zunehmende Verdrängung der Spandauer Vorstadt nicht aufhalten, wenn es nicht gelingt, die Luxussanierung (für die urbane Minderheit) abzuwehren. Tacheles gesprochen bedeutet das, auch Tacheles sollte sich in diesem Stadtraum integrieren und nicht den selten gewordenen öffentlichen Raum einer Planung ausschließlich mit eigenen Interessen okkupieren, sondern sich in das soziale Milieu integrieren, in das sie 1989 gezogen sind und in dem sie gemeinsam mit den Bewohnern und kleinen Gewerbetreibenden überleben oder untergehen. Karin Baumert
Die gelernte Stadtsoziologin Karin Baumert ist seit 1996 für die PDS Baustadträtin im Bezirk Mitte
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