piwik no script img

Mit 17 hat man noch Träume

Eine Studie der Freien Universität über Schüler in Ost und West belegt: Jugendliche sind stärker durch Geschlecht als durch System geprägt. Gewaltpotential im Westbezirk höher  ■ Von Isabel Fannrich

Dicht an dicht stehen sie da, rammen sich die Ellenbogen gegenseitig in die Rippen: Fiktion, oder haben Ostjugendliche, individualistisch und karrieregeil, ihre Altersgenossen aus dem Westen in Sachen Egozentrismus bereits überholt?

„Die Schüler aus dem Ostteil der Stadt zeigen eine höhere Leistungsbereitschaft“, stellt Gerhard Wenzke vom Institut für Allgemeine Pädagogik der Freien Universität (FU) fest, „denn seit der Wende wurde ihnen ständig gepredigt: Du mußt dich durchsetzen; andernfalls gehst du im Wettbewerb unter.“ Seit 1990 führt die FU die Studie im westlichen Stadtteil Charlottenburg und im östlichen Lichtenberg durch. Dabei werden jährlich über 1.200 Schüler und Schülerinnen der Klassen sieben bis zehn von Gymnasien und Hauptschulen zu Wertvorstellungen, ihrer sozialen Situation und ihrem Berlin-Bild befragt. Im Zentrum der Umfrage steht, welche Tendenzen in der Entwicklung von 1990 bis 1995 zu beobachten sind.

Gerd Wenzke: „Unsere anfängliche These lautete, daß die biographischen Verläufe der Ost- und Westjugendlichen noch auf lange Sicht unterschiedlich verlaufen werden.“ Überraschend habe sich jedoch herausgestellt, daß die Unterschiede geringer seien als angenommen: „Familien- und Schulklima sowie die Freizeitgestaltung weisen große Übereinstimmungen auf und werden überwiegend positiv bewertet.“ Die Familie nehme einen hohen Stellenwert ein. Der Kontakt zwischen Ost- und Westkids lasse jedoch noch zu wünschen übrig, da die Meinungen voneinander sehr vorurteilsbeladen seien.

Demgegenüber belegt die Studie, daß die Jugendlichen sich „auf hohem Niveau“ mit Ängsten wie Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung plagen. Parallel dazu hat sich jedoch ein Fortschrittsdenken eingestellt. Wenzke: „Die Ablehnung von Wohlstand und Technik hat leicht abgenommen. Bezüglich gesellschaftlicher Probleme sind die Schüler apathischer geworden. Ihre eigene Situation schätzen sie aber meist positiv ein.“

Unterschiede zwischen Ost und West bestehen hauptsächlich im Verhalten: Die Eltern im Osten kontrollieren ihre Kinder stärker. Westkids sind nach Aussagen der Studie selbständiger und aufgeschlossener gegenüber Ausländern. Demgegenüber ist das Gewaltpotential in Charlottenburg höher als in Lichtenberg. Gerhard Wenzke ist überrascht: „Insgesamt kommen geschlechtsspezifische Unterschiede stärker zum Tragen als systembedingte.“ Mädchen seien in ihrer Freizeitgestaltung passiver und würden sich weniger egozentrisch verhalten. „Diese Ergebnisse sind nicht zufällig, auch wenn man die Studie nicht als repräsentativ bezeichnen kann.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen