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Deutsche Totengräber des „Prager Frühlings“

■ Warum verfolgte die SED im Jahr 1968 die Reformkommunisten in der ČSSR mit solcher Inbrunst? Neues Licht in der Studie eines multinationalen Autorenkollektivs

Die Okkupation der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 bedeutete für viele Menschen auf dem „gekidnappten Kontinent“ Ostmitteleuropa einen brachialen biographischen Einschnitt. Hatte doch der „Prager Frühling“ die Hoffnung genährt, die realsozialistischen Regime seien durch eine gemeinsame Kraftanstrengung „von oben“ und „von unten“ in demokratischer Richtung reformierbar. Mit der „Normalisierung“, die der Okkupation folgte, starb diese Hoffnung. Die „Jagd nach der verlorenen Tat“ (Milan Kundera), das heißt der Versuch vieler reuiger Kommunisten, die von ihnen verschuldeten Verbrechen wiedergutzumachen, scheiterte. Damit scheiterte auch die Praxis eines „dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus, dem sich so viele Linke nicht nur „im Ostblock“ verschrieben hatten. Der 21. August 1968 leitete den heilsamen Prozeß der Ernüchterung ein, dem sich die Schriftstellergeneration um Christa Wolf unterzog. Er markierte den Anfang vom Ende aller Illusionen.

Auf seiten tschechischer und ostdeutscher Demokraten ist die kurze, heftige Liebesbeziehung vom Sommer 68 schon häufig thematisiert worden, etwa im Werk von Rainer Kunze. Wie aber steht's mit den Beziehungen unter den Mächtigen, wie mit der Wissenschaft, die sie für uns erforschen soll, und wie mit der internationalen Kooperation zu diesem Zweck? Allzu häufig passiert es ohnehin nicht, daß sich Historiker aus Deutschland und den ost- bzw. mittelosteuropäischen Ländern zusammentun, um den ehemals realsozialistischen Boden zu beackern. Nun haben sich Historiker und Politikwissenschaftler aus drei „vergangenen“ Staaten, der alten BRD, der DDR und der ČSSR, gefunden, um gemeinsam das Thema „Die SED und der ,Prager Frühling‘ 1968“ zu bearbeiten. Es sind dies Manfred Wilke, das alte Schlachtroß im Unterstützungskampf für die demokratischen Bewegungen Osteuropas der 70er und 80er Jahre, Václav Kural, einst Mitarbeiter des Prager Reformpolitikers und Altkommunisten Josef Smrkovský, und schließlich Lutz Prieß, der seit 1989 die SED-Geschichte allgemein und die Beziehungen zwischen SED und KPČ speziell im Visier hat.

Den drei Autoren ist eine spannende, dichte Darstellung des Schurkenstücks „Die Verfolgung und Ermordung des Sozialismus mit menschlichem Gesicht zu Prag“ gelungen, eines Dramas, bei dem die SED den Part des wichtigsten Spießgesellen Breschnews übernahm. Die Arbeit erschließt eine Reihe bislang unbekannter Dokumente, so die Konferenzprotokolle der fünf Warschauer-Pakt- Staaten (Rumänien hielt sich abseits) im Frühjahr und Sommer 1968. Dort wurde die Kampagne gegen die Prager Reformkommunisten abgestimmt. Aus den Dokumenten wird klar, daß die SED sich in in ihrer „Einpeitscher“-Funktion von zwei ineinander verwobenen Motivketten leiten ließ: der Angst vor Infektion und der Angst vor außenpolitischer Isolation. An der ersten Front wurde das MfS angesetzt, an der zweiten, über die die Autoren detailliert berichten, die Konferenzdiplomatie.

An dieser zweiten Front war die Nervosität der deutschen Realsozialisten insofern verständlich, als sich die Große Koalition in Bonn anschickte, die sterile Abgrenzungsdoktrin der Adenauer/Hallstein-Zeit über Bord zu werfen. Ein Abkommen mit der ČSSR geriet in Reichweite. Mit geradezu panischer Aufmerksamkeit verfolgten die SED-Spezialisten Auftritte tschechischer Intellektueller in der Bundesrepublik. Seitens der SED wurden diese Diskussionen, wie in der Studie nachlesbar, als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR angesehen. Erreichten sie doch via Westglotze ein zunehmend interessiertes DDR-Publikum.

Schon früh gehörte die SED zu jenen „Bruderparteien“, die nach „gesunden Kräften“ in der KPČ Ausschau hielten. Es jagten sich die Reiseberichte von Funktionären aller Ebenen an die Zentrale, die „einschätzten“ und denunzierten. Was Dubček selbst anlangt, wurde er in der ersten, der Frühjahrsphase, von der SED als überforderter Trottel angesehen, in der zweiten, der Sommerphase, als überaus geschickt operierender Konterrevolutionär. Die „gesunden Kräfte“, an deren Ausspähung die Kader von SED und MfS so starken Anteil hatten, erwiesen sich allerdings im entscheidenden Moment der Invasion als unfähig. Weder konnten sie eine „revolutionäre Arbeiter-und-Bauern-Regierung“ bilden, noch konnten sie den umfassenden, gewaltlosen Widerstand der ČSSR-Bevölkerung im Keim ersticken. Die Invasion, so Wilke und seine Mitautoren, erwies sich als militärisch erfolgreich, politisch wurde sie zur Katastrophe. Christian Semler

Lutz Prieß, Václav Kural, Manfred Wilke: „Die SED und der ,Prager Frühling‘ 1968“. Berlin 1996, 283 Seiten, 98 DM

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