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Spuren hinterlassen

■ Eine sehr, sehr alte Geschichte: Schon im dynastischen Ägypten malten sich die Frauen die Lippen rot. Schminkkunst damals und heute

Als der Archäologe Howard Carter im Beisein seines Gönners, des Earl of Carnarvon, 1922 das Grab Tutenchamuns öffnete, fanden die Ausgräber neben Hautcreme und Rouge auch eine fetthaltige Paste, in der das gelbrote Eisenerz Zinnober gebunden war. Des Rätsels Lösung ließ nicht lange auf sich warten: Die Ägypterinnen brachten mit dieser Substanz ihren Mund zum Leuchten. Das war nicht gesund, aber beeindruckte. Caesar soll zwei Tage und zwei Nächte an den rotgeschminkten Lippen seiner geliebten Cleopatra gehangen haben.

Mit dem aufkommenden Christentum begann das lange Siechtum der Schminkkunst. Erst im Barock konnte sich der Adel beiderlei Geschlechts wieder damit anfreunden. Das Bürgertum dagegen fand solchen Dekor unnütz, zumindest beim Mann.

Bei der Weltausstellung 1883 schlug dann die Geburtsstunde des modernen Lippenstifts: Pariser Parfümeure präsentierten in Amsterdam für umgerechnet hundert Mark ihren „Zauberstab des Eros“, umhüllt von Seidenpapier. Anfang des 20. Jahrhunderts folgte der metallene Mantel. Aber erst 1950 setzten die Amerikaner die charakteristische Drehmechanik ein.

„Rote Lippen soll man küssen“

Der Lippenstift ist die letzte Bastion gegen den androgynen Trend. Lippenstift bei Männern, das ist Transvestiten-Subkultur, Rocky Horror Picture Show oder bedeutet schlicht drohendes Unheil. Wie bei der englischen Krimiautorin P. D. James, die ihren Protagonisten einmal mit rotgeschminkten Lippen präsentiert: Da hängt der junge Mann ermordet am Seil.

Für emanzipierte Frauen der zwanziger Jahre symbolisierten rotgeschminkte Lippen selbstbewußte Weiblichkeit. Nach 1968 sah das ganz anders aus. Cliff Richards' „Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da“ spaltete die Bewegung in zwei Lager: Die einen applaudierten dem forschen Draufgänger. Den anderen wurde Cliffs Fräuleinbild zu bunt. Sie hatten mit Lidschatten und Lippenrot nichts am Hut.

Das hat sich inzwischen geändert. Der populäre Drehstift ist mittlerweile auch in emanzipierten Kreisen wieder sehr beliebt. Ein paar Fakten: 32,5 Millionen Exemplare wurden 1995 in Deutschland verkauft, eine halbe Milliarde Mark Jahresumsatz gemacht. 15 Millionen deutsche Frauen nutzen ihn, so will es der „Kosmetik-Report“ aus Konstanz wissen, die Hälfte der Teenies, Spitzenwert von 61,5 Prozent bei den 40- bis 49jährigen und immerhin noch gut ein Fünftel der Frauen über 70.

Leidenschaften – weltweit

Dem ungarischen Schriftsteller Lászlo Darvasi verdanken wir eine Geographie des Küssens: Die Portugiesen können es am besten, sehr verspielt, doch schnell vergessen seien der italienische und der französische Kuß; die Dänen verträumt, die Tschechen ausdauernd. Iren und Schweizer küßten nur selten, Engländer und Deutsche hätten eine träge Zunge – meint zumindest Lászlo Darvasi.

Ein renommierter Lippenstiftproduzent aus Paris, der stolz ist auf seine angeblich weltweit größte Farbkollektion, hat die Kußerkenntnisse des Literaten um einen Vergleich der Farbvorlieben ergänzt: Französinnen seien einem tiefen Rot „treu ergeben“, Skandinavierinnen bevorzugten das diskrete Rosenholz oder Koralle, Südeuropa schwärme für hautfarbene Töne. Die US-Ostküste liebe das tiefe, dunkle Rot, die Westküste hielte es wie die südamerikanischen Länder: Rosatöne in allen Varianten.

Die Kußforscher sollten ihre Erkenntnisse mit den Farbgeographien der Kosmetikindustrie korrelieren. Es entstünde ein farbiger Weltatlas der Leidenschaften. Doch das braucht noch seine Zeit. Denn die Wissenschaft hat ihre blinden Flecken. Schönheit ist für die männerdominierte scientific community ein unbeackertes Terrain. Und Mund und Lippen gelten nur als intellektuelle Organe. Unlängst hat sich eine Marburger Projektgruppe von EthnologiestudentInnen unter der Leitung von Kulturwissenschaftlerin Sabine Gieske des Themas angenommen – und war so fasziniert, daß eine Ausstellung und ein Buch dabei herauskamen. Lag die ungewöhnliche universitäre Produktivität an dem „sehr weiblichen Thema“ (Gieske)? Oder wollten die NachwuchsforscherInnen beweisen, daß Wahrheiten nicht ungeschminkt sein müssen?

Selbstbehauptung – Lipstick-War

Die Frau, die sich die Lippen rötet, sagt „ich“. Nicht „wir“ – so massenhaft die Lust am Kolorieren, so suggestiv die Werbung der internationalen Produzenten auch sein mögen. Niemand spürt das intensiver als Potentaten autoritär-kollektivistischer Regimes. Treppenwitz der Kulturgeschichte: Ausgerechnet Rotchina versuchte den Lippenstift lange Zeit zu verbannen.

Auch das Naziregime konnte mit dem Lippenstift nicht viel anfangen. Die NS-Frauenwarte raunzte von „überschminkter Leere“. Das war in den Demokratien Englands und der USA anders: Als die Produktion dekorativer Kosmetik in England 1939 zugunsten kriegswichtiger Produkte eingestellt wurde, sackte die Motivation der Arbeiterinnen in den Keller. Schnell wurde gegengesteuert. Die populäre amerikanische Frauenzeitschrift McCall's philosophierte im März 1941 über Kosmetik als Zeichen der Meinungsfreiheit, „Rüstung“ des Wohlbefindens und „vitaler Bestandteil der nationalen Sicherheit“.

Selbstzerstörung und Männerphantasie

In England avancierten Lippenstifte auch namentlich zu weiblichen Waffen: „Victory Red“ und „Patriot Red“ leisteten ihren Part zur weiblichen Geheimgeschichte des Zweiten Weltkrieges.

Wer schön sein will, leidet. Ende der siebziger Jahre fand die Stiftung Warentest bei einer ihrer Untersuchungen in fast allen Lippenstiftfarbstoffen im Magen lösliche Bariumverbindungen sowie eine Reihe anderer giftiger Schwermetalle. Das ist zwar mittlerweile Vergangenheit. Aber hinsichtlich der versprochenen Pflegewirkung der äußerst empfindlichen Lippenhaut „riskieren die meisten Firmen eine dicke Lippe“, wie ein Öko- Magazin erkundete. Auch mit dem kußechten Lippenstift gibt's Probleme. Denn die Zeiten, als die eingesetzten Farbstoffe die oberste Hautschicht regelrecht einfärbten, sind mit dem ökologischen Fortschritt vorbei.

Die Sexualforschung hat dazu eigentlich alles gesagt. Lippen, so belehren uns ihre Nachschlagewerke, verweisen auf Schamlippen. Die erröten bei Erregung, weil besonders gut durchblutet. Rotgeschminkte Lippen haben mithin sexuelle Signalwirkung. Das klingt zwar nicht besonders erotisch, leuchtet aber irgendwie ein. Aber wie ist das mit dem Lippenstift als solchem? Seine Form und Ausdrehmechanik animierten nicht nur Freud-Schüler zu Interpretationen, sondern auch Lippenstiftproduzenten zu eindeutigen Modellen: in Phallus-Form. Herrenmagazine jedenfalls schwelgen auch in dieser Hinsicht ausgiebig in Männerphantasien.

Claes Oldenburg, schwedisch- amerikanischer Großskulpteur, hat das Thema auch fasziniert: Er konstruierte 1969 ein groteskes Mega-Opus in Form eines acht Meter großen, aufblasbaren Lippenstifts, der aufgedreht auf einer Kettenfahrzeugrampe steht.

Dalis Lippensofa und Man Rays „Schwebende Lippen“ sind weitere Kunstbeiträge, träg-üppig und heimlich-erotisch. Auch gut. Aber was wollte uns der Künstler Wolf Vostell sagen, als er in Vietnamkriegszeiten seinen artifiziellen B-52-Jäger neben Bomben auch gleich große Lippenstifte ausklinken ließ?

Dekorative Zivilcourage

So martialisch kann der Stift gar nicht sein. In keiner europäischen Stadt prominierten in diesem Sommer so viele Frauen mit akkurat gezogenen Liplinern wie in Sarajevo. Ein Signal gegen die Barbarei: Wir haben den Krieg überstanden. Dekorative Zivilcourage. Vielleicht aber wollen sie auch nur am Liebhaber, Ehemann oder bloß am Weinglas den existentiellen menschlichen Wunsch befriedigen: eine Spur hinterlassen. Richard Laufner

Tip zum Weiterlesen: Sabine Gieske (Hrsg.): „Lippenstift. Ein kulturhistorischer Streifzug“. Jonas-Verlag, Marburg 1996, 128 Seiten mit zahlreichen Illustrationen, 28DM

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