: Bass Culture
Geisterhaft erscheint eine Gitarrenphrase, ein Bass-Riff steht allein in einer Landschaft aus Stille: Jamaikanischer Dub-Reggae hat den Song neu erfunden. Jetzt werden die wichtigsten Dub-Klassiker aus den siebziger Jahren wiederveröffentlicht ■ Von Tilman Baumgärtel
An einem Abend im Jahr 1968 saß der jamaikanische Produzent Osbourne Ruddock, Künstlername King Tubby, in seinem winzigen Studio in Kingston und hörte sich einige neue Aufnahmen an. Er hatte ein Band mit dem Rocksteady-Song „You don't care“ von der Gruppe The Techniques eingelegt, dessen Aufnahmequalität er kontrollieren wollte. Als nach der Einleitung die Stimme des Sängers einsetzte, dreht er alle Instrumentalspuren weg, um nur den Gesang zu hören. Dann folgte er einem dieser spontanen Impulse, die meist zu nichts führen und einmal in tausend Jahren (Musik-)Geschichte machen: Er drehte nach einigen Takten die Spur laut, auf der Bass und Schlagzeug zu hören waren. Das klang nicht schlecht. Eigentlich sogar ziemlich gut! Dann machte er den Gesang leise und ließ den Bass weiterlaufen. Wow!
Eilig nahm King Tubby diesen „neugemischten“ Song auf ein anderes Tonband auf, probierte auch mit ein paar anderen Stücken herum und preßte schließlich einige dieser Songs auf eine Azetatscheibe – eine Schallplatte aus einem weichen Kunststoff, die normalerweise dazu benutzt wird, die Wirkung neuer Songs in den Dancehalls von Kingston auszuprobieren, bevor sie als Single veröffentlicht werden. Er nahm diese Azetatplatten mit, um sie in seinem Soundsystem „Hometown Hifi“ auszuprobieren.
In derselben Nacht legte er in einer Kingstoner Dancehall die Single mit dem Techniques-Orginalsong „You don't care“ auf. Als die Platte durchgelaufen war, lag die neubearbeitete Version des Songs schon auf dem anderen Plattenteller. Die Nadel senkte sich auf die Vorlaufrille, das schon bekannte Instrumentalintro begann noch einmal. Doch plötzlich setzte die Musik aus, und die Stimme des Leadsängers klang für einen Augenblick a capella aus den Lautsprechern... bis plötzlich wie aus dem Nichts dröhnend Bass und Schlagzeug loslegten.
Der schleppende Bass und die dumpfe Trommel ergriffen die TänzerInnen auf der Tanzfläche wie eine unsichtbare Hand. Das Publikum war nicht zu halten. Nicht umsonst nennt man Jamaika die „lauteste Insel der Welt“. Für den Rest der Nacht tat King Tubby nichts anderes, als wieder und wieder die vier Azetatplatten mit den neuen versions zu spielen, die er ein paar Stunden vorher hastig in seinem Studio gepreßt hatte. sein DeeJay U-Roy toastete über die Rhythmen, die TänzerInnen bewegten ihre Körper wie in Trance, und King Tubby hatte – ohne es zu wissen – Musikgeschichte gemacht, die bis in unsere Gegenwart hinein für eine permanente Revolution in der Popmusik sorgen sollte.
Verzögern, betonen, unterdrücken
Disco, HipHop, Techno, Bass, Jungle, Drum & Bass – keiner dieser Musikstile wäre möglich gewesen ohne die Entdeckung, die King Tubby in dieser Nacht im Jahr 1968 gemacht hatte: daß Musik nur ein Rohmaterial ist.
Schon vor King Tubby hatte der wichtige jamaikanische Produzent Sir Coxsone Dodd begonnen, auf die Rückseiten seiner Singles Instrumentalversionen der Stücke zu pressen. Über diese „Riddims“ toasteten die jamaikanischen DeeJays witzige, zum Tanzen animierende synkopierte Reime. Doch King Tubby war weiter gegangen: Er hatte begonnen, die Songs auseinanderzunehmen, zu dekonstruieren und zu verfremden: Einzelne Elemente der Stücke wurden durch Echoeffekte hervorgehoben oder verzögert, einzelne Frequenzen betont, andere unterdrückt.
Viele der phantastischen Platten, die aus dieser Totaloperation hervorgegangen sind, waren jahrelang vergriffen. Man mußte den Gegenwert einer Handvoll kleiner Goldklümpchen auf den Tisch von Secondhand-Plattenläden legen, um verschollene Meisterwerke nach Hause tragen zu dürfen. Doch seit kurzem stehen einige Platten von King Tubby und seinen Meisterschülern wieder in den Plattenläden, auch in Deutschland. Das Londoner Label Blood and Fire hat begonnen, ein Kapitel der Musikgeschichte zu neuem Leben zu erwecken, dessen Bedeutung immer noch unterschätzt wird. Denn in der letzten Zeit hat Dub in einer revitalisierten Version wieder begonnen, die Tanzflächen zu füllen.
Londoner Neo-Dub-Bands und -Projekte wie The Disciples, Dub Syndicate, Zion Train, Rockers Hifi oder Tassili Players haben der dekonstruktivistischen Methode des Dub zu neuen Ehren verholfen. Mit den geschärften Dub- Operationswerkzeugen rücken sie neueren Stilen wie House, Drum & Bass und Jungle zu Leibe. Diejenigen, die sich zu diesen Grooves die T-Shirts auf der Tanzfläche durchgeschwitzt hatten, begannen nach den Roots dieses Stils zu suchen, und die Orginal-LPs wurden vollends unbezahlbar.
Dem hat Blood and Fire ein Ende gemacht: Das Londoner Label veröffentlicht Dub-Klassiker aus den siebziger Jahren neu. Elliot Rashman, Andy Dodd und Bob Harding, die Manager der Popgruppe Simply Red, haben das Geld, das sie damit verdienen, daß sie Mick Hucknall zu deutschen Open-air-Festivals schicken, reinvestiert in dieses Plattenlabel mit honorigen Absichten. Mit ihren Re-Issues wollen sie daran erinnern, daß King Tubbys Rolle als Produzent der von Sam Phillips, George Martin, Phil Spector und Trevor Horn mindestens vergleichbar ist. „In Jamaika sollte es überall riesige Denkmäler für King Tubby geben“, sagte Elliot Rashman in einem Interview, und da hat er nun wirklich recht.
Handspinnen, hinterglasmalen
King Tubby, und bald auch andere Produzenten wie Lee „Scratch“ Perry, Keith Hudson oder Winston Holness, verfeinerten in den siebziger Jahren die Methoden, mit denen man Reggae-Songs sezierte, bevor man ihnen neues Leben einhauchte. Wie ein Kind, das ein Uhrwerk auseinandernimmt, um daraus eine andere (Wunsch-)Maschine zu basteln, zerlegten sie Stücke in ihre Bestandteile und fabrizierten daraus etwas anderes: Wie ein Geist erscheint eine Gitarrenphrase an einer Stelle des Songs, an der sie nie sein sollte. Ein Bass-Riff steht plötzlich allein in einer Landschaft aus Stille. Und im Hintergrund schleicht ein Fetzen übriggebliebener Gesangsmelodie herum wie ein geprügelter – und durch die Echokammer gezogener – Hund. Technische Perfektion war dabei unwichtig, im Gegenteil: Das Markenzeichen von King Tubby wurde ein rätselhaftes Feedback-Pfeifen seines Mischpults, das er mit Effektgeräten bearbeitete.
Die Re-Issues von King-Tubby- Meisterwerken auf Blood and Fire sind allerdings mit technischer Finesse und kuratorischer Sorgfalt nach den Masterbändern wiederaufbereitet worden. Wo entscheidende Frequenzen fehlten, hat man den fehlenden Sound nach archäologischen Aufzeichnungen handgesponnen, mundgeblasen, hinterglasgemalt und in den Abbey Road Studios (Beatles! Sergeant Pepper!!!) „digitally remastered“. Und außerdem mit Linernotes von dem führenden europäischen Reggae-Experten Steve Barrow versehen.
Diese Akribie mag Reggae- Fans, die gewohnt sind, ihre schlampig gepreßten Lieblingsplatten aus Jamaika erst mal mit dem Bügeleisen auf deutsche DIN- Norm zu bringen, ein wenig irritieren. Auch die schicken, neugestalteten Cover (Matthew Rudd) geben dem Ganzen einen leicht kunstgewerblichen Touch. Doch egal, wir sind hier in Simply-Red- Land, und die Musik ist dadurch sicher nicht schlechter geworden.
Pulsieren, wabern, rumdschungeln
Im Geschäft stehen diese Platten neben anderen Re-Issues: Das wichtige Reggae-Label Trojan hat eine Reihe von alten LPs von Lee Perry wiederöffentlicht, neben King Tubby wohl der wichtigste jamaikanische Dub-Produzent. Die beiden neuveröffentlichten Platten „The Upsetter“ und „The Return of Django“ dürften zwar eher das Herz der Easy-listening-Fans erfreuen als das der hartgesottenen Dub-Anhänger. Doch die bizarren, quietschenden Sounds, die Perry in seinen früheren Jahren aus Billigst-E-Orgeln herausholte, verweisen bereits auf das unglaubliche lautmalerische Talent, das Perry auf Platten wie „Super Ape“ oder „Blackboard Jungle“ bewies.
Ich habe spaßeshalber mal auf der taz-CD-ROM unter dem Stichwort „Lee Perry“ nachgesehen und nur fünf lausige Artikel über
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ihn gefunden. Wo er immer nur unter „ferner liefen“ geführt wurde. Dabei hat Mr. Perry nicht nur in den sechziger Jahren die heißesten Nummern von Bob Marley kongenial produziert. Auf seinen Soloplatten aus den siebziger Jahren unterhält er sich mit Späßen, die in Europa zur selben Zeit als hochavantgardistische „Musique concrete“ gehandelt wurden.
Lee Perry, der sich selbst „Upsetter“ (Der Nerver) nannte, war der Dadaist unter den Dub-Produzenten. Auf seinen Soloplatten schreien Babys, krähen Hähne, klingeln Türglocken, dann setzen die Blockflöten (!) ein, und eine gründlich dekonstruierte Reggae- Band spielt eine Melodie, die klingt wie die Titelmelodie aus einem Spaghetti-Western. Dann wandern all diese Geräusche erst zum linken, dann zum rechten Lautsprecher. Und dann kippt jemand Wasser aus einem Eimer in einen anderen Eimer, was Regen simulieren soll. So macht man Lo-Fi, Freunde!
Perry legte so viel Echo und Delay auf die Rhythmusspur, daß die verschiedenen Instrumente zu einem pulsierenden, wabernden Dschungelsound verschmolzen. Er mischte alle seine Aufnahmen live und ohne „Over-Dubs“ ab, was absolut unüblich war. Und er brach auch mit anderen Tabus: Als erster jamaikanischer Produzent arbeitete er mit einer Rhythmusmaschine, und um die vier Spuren seines Mischpults zu erweitern, nutzte er auch die beiden Stereokanäle, die er zum Teil einfach an- und ausschaltete, um überraschende Effekte zu erzielen. Mit seinen Klangexperimenten hat er die Sampling-Technik der achtziger und neunziger Jahre vorweggenommen.
Zurückkehren, ehren, wiederveröffentlichen
Perrys Auftreten war nicht weniger exzentrisch als seine Produktionen. Mit Federn, Knochen und magischen Amuletten behängt, gab er seltsame Interviews, in denen er behauptete, daß er „Musik von den Wurzeln des König David“ mache. Nach mehreren Zwangsaufenthalten in Nervenheilanstalten setzte er Ende der siebziger Jahre sein legendäres Black-Ark-Studio selbst in Flammen, weil er sich – wohl zu Recht – von seinem britischen Label Island betrogen fühlte, und wanderte in die Schweiz aus. Zwar quellen die Regale in den spezialisierten Plattenläden mittlerweile wieder über vor lauter Lee-Perry-Alben. Doch mit den mäßigen Platten, die in den achtziger und neunziger Jahren unter seinem Namen erschienen, hat er wohl nicht viel zu tun: Meist sind es fertige Riddim Tracks von Studiomusikern, über die Perry in jamaikanischem Patois irre Knittelreime quasselte (Rain and thunder / riding on a Honda / with a blazing skull from skull cave...). Mit ihm hatte Jamaika einen seiner wichtigsten Produzenten verloren. King Tubby, der „Erfinder“ des Dub, wurde – wie viele seiner Reggae-Stars vor ihm und nach ihm – 1989 von unerkannten Killern erschossen. (Lee Perry behauptet bis heute, daß Tubbys Konkurrent Bunny Lee den Mord in Auftrag gegeben hat.) Viele seiner Masterbänder sind darum heute verschwunden, wurden zum Teil sogar von anderen Produzenten weiterverarbeitet.
Diese beiden Verluste haben die jamaikanische Dub-Culture zwar nicht zerstört, aber ihnen ihre vitalsten Vertreter genommen. Jüngere Produzenten wie Scientist, Prince Jammy oder Joe Gibbs haben in den achtziger Jahren das Dub-Erbe in Jamaika weiterentwickelt. Über die USA verbreitete sich die Methode des Dub, aus Songs immer neue versions zusammenzumischen, in der ganzen Welt, wurde HipHop, Techno, Drum & Bass.
In den letzten Jahren haben vor allem in Großbritannien, aber auch in Italien und Deutschland, eine Reihe junger Bands der Urmusik Dub neues Leben eingehaucht, aber das ist eine andere Geschichte. Mit den Wiederveröffentlichungen von King Tubbys wichtigsten Alben hat man jetzt die Gelegenheit, zu den tiefsten, genialischsten Wurzeln dieser großartigen Musik zurückzukehren. Vielleicht setzen sie King Tubby ja in Jamaika doch irgendwann noch mal ein Denkmal...
King Tubby & Friends: „Dub Gone Crazy“
King Tubby & Soul Syndicate: „Freedom Sounds in Dub“
King Tubby & Scientist: „Greenwich Farm Rub-A-Dub“
Scientist: „Dub in the Roots Tradition“
Keith Hudson: „Pick A Dub“ (alle auf Blood and Fire, deutscher Vertrieb: Echo Beach, Hamburg)
„King Tubby's Special 1973–1976“ (Trojan Records)
Lee „Scratch“ Perry: „The Upsetter“
Lee „Scratch“ Perry: „The Return of Django“ (beide Trojan Records)
Lee „Scratch“ Perry: „Voodoo- ism“ (EfA)
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