: Waldbilder von erlesener Qualität
Anmutige Waldblume und erhabener Baumpatriarch: Eine Wanderung durch Thüringens Hainich, den größten geschlossenen Laubwald Europas, erinnert an alte Märchen ■ Von Ulrich Grober
Grünes Herz Deutschlands. Die alte, abgenutzte Metapher der Thüringen-Imagepfleger hätte, auf den Hainich gemünzt, ihren Sinn. Am östlichen Ausläufer dieses Höhenzugs zwischen Harz und Thüringer Wald, Werra und Unstrut, hat man nach der Vereinigung den neuen geographischen Mittelpunkt des Landes vermessen. Und Grün in allen Schattierungen ist die Farbe dieser Landschaft: Der Hainich ist mit das größte geschlossene sommergrüne Laubwaldgebiet, das wir in Deutschland – und Europa – noch haben.
Mühlhausen, das alte, schön verwinkelte thüringische Städtchen ist ein guter Ausgangspunkt für eine Hainich-Wanderung. Vier oder fünf Kilometer vom Stadtkern entfernt – der Waldrand. Ein Blick zurück über die vieltürmige Silhouette von Mühlhausen, ein kurzes Innehalten, dann trete ich in den Wald ein. Von hier aus zwei Tageswanderungen nach Süden: keine Siedlung, keine größere Autostraße oder Trasse, kein Acker oder Weideland, kaum Menschen. Nur Wald.
Der Hainich-Rennstieg, ein gut markierter Kammweg, 32 Kilometer lang, durchquert dieses Waldgebiet in Nord-Süd-Richtung von Eigenrieden nach Behringen. Meist ein breiter, steiniger Forstweg, auf einer kurzen Strecke sogar eine Betonplatten-Panzerstraße. Ich weiche öfters vom Weg ab, laufe auf parallelen Wegen und Pfaden, wo sich die Füße im Laub und auf Waldboden erholen können. Lohnend ist der Abstecher zur Burgruine Haineck. Steile Anstiege gibt es sonst kaum. Auch Fernsichten sind selten. Der Blick beim Wandern kann sich ganz auf die Waldbilder konzentrieren. Und die sind von erlesener Qualität.
Es ist ein lichter Buchenmischwald hier auf dem Kamm des Hainich. Die Stämme stehen weit genug auseinander, um viel Sonne hereinzulassen. Auch in horizontaler Richtung ist der Wald durchlässig. Flächendeckendes Buschwerk oder Dickicht gibt es hier kaum. Das Geäst der Buchen setzt erst weit oben am Stamm an. Der Wanderer kann seine Blicke an den silbergrauen oder von Moos und Flechten gedunkelten Buchenstämmen vorbei weit hinein in das Innere des Waldes frei schweifen lassen. Über und über ist der Boden mit einem grünen Teppich aus Waldblumen bedeckt, der das Braun des abgestorbenen Laubes nur in Mulden oder rings um Baumwurzeln hervortreten läßt.
Die weißen Sterne der Buschwindröschen bedecken weite Flächen. Darin leuchten gelbe Flecken Schlüsselblumen, ab und zu Lerchensporn, Leberblümchen, Bingelkraut, das Bleiche Waldvögelein. Dann wieder, direkt am Weg dschungelartig wuchernd, der Bärlauch mit seinen glänzenden Blättern, die, wenn sie geknickt werden, einen betäubenden, knoblauchähnlichen Geruch ausströmen. Mit wachsendem Abstand vom urbanen Leben werde ich achtsamer und gelassener, finde allmählich den richtigen Rhythmus von Gehen und Sitzen, Schauen und Meditieren.
Vogelkonzert bei Sonnenaufgang
Begegnungen mit Tieren sind häufiger als in anderen Wäldern. Mal huscht ein Iltis vorüber. Mal erhebt sich ein Rotmilan von einem abbrechenden, morschen Ast und schwingt sich, ohne das Astwerk der Baumkronen zu streifen, ins Freie. Bei Sonnenaufgang ist ein vielstimmiges Vogelkonzert zu hören. Zuerst eine Klangkuppel über den Baumkronen, dann treten einzelne Stimmen hervor, Buchfink, Singdrossel, dazwischen das Gurren der Ringeltaube. Manchmal die Laute eines Rehbocks oder Fuchses. In der Abenddämmerung dann die ruhigen Flügelschläge und Schreie des Waldkauzes, der sich ohne Scheu im Wipfel des Baumes niederläßt, unter dem man lagert.
Jubelnder Finkenschlag und schauriger Nachteulenruf, anmutige Waldblume und erhabener Baumpatriarch, das Spiel von Licht und Schatten – solche Übergänge und an alte Märchenbuchillustrationen erinnernde Waldbilder und -klänge machen den Reiz einer Hainich-Wanderung aus.
Die märchenhafte Atmosphäre, die den Hainich auch für das Wandern mit Kindern zu einem idealen Terrain macht, ist vielleicht kein Zufall: Der Buchenmischwald, der im Hainich die optimalen Standortbedingungen, Muschelkalkuntergrund und regenreiches Klima, findet, war einmal die für Mitteleuropa typische Waldgesellschaft. Die Buche galt hierzulande als die „Mutter des Waldes“, bevor im 18. Jahrhundert die „nachhaltige“, rationalistische Forstwirtschaft flächendeckend die Fichten- Monokultur etablierte. Hier, im relativ abgelegenen Hainich, hat sich ein Dokument der Landschaftsgeschichte über die Jahrhunderte erhalten. Nicht zuletzt dank der naturnahen Plenterwaldwirtschaft, betrieben von den bäuerlichen Laubgenossenschaften aus den umliegenden Dörfern.
Ästhetischer Reiz und ökologischer Wert dieser Wälder sind im Weberstedter Holz nordwestlich von Craula am intensivsten zu erleben. Dieses Gebiet birgt trotz langjähriger militärischer Nutzung Naturwaldinseln, die seit etwa 150 Jahren von Menschenhand weitgehend unberührt sind. „Urwald“- Bilder von wild und frei wuchernder Natur: der vermodernde Baumleichnam, der im Zerfall Moose und Pilze und Insekten und mit seinem Humus die Keimlinge einer neuen Generation von Bäumen ernährt. Hier brütet der Schwarzstorch, hier blühen seltene Orchideenarten.
Dort wo der Rennstieg den Wald verläßt und über Streuobstwiesen und Felder die Ortschaft Behringen erreicht, nach zwei Tagen wieder ein weiter Ausblick: auf die Hörselberge und hinüber zur Wartburg, Tannhäusers Land. In dieser Region liegen wertvolle Kultur- und Naturdenkmale dicht beisammen – günstige Voraussetzungen für die Entwicklung eines anspruchsvollen Tourismus: Morgens die Stille im „Buchendom“ des Hainich, abends ein Besuch in der Mühlhäuser Blasiuskirche oder Orgelmusik von Johann Sebastian Bach in seinem Eisenacher Geburtshaus genießen.
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