piwik no script img

Wahlfamilie zum Mitwohnen gesucht

Von Wohnungsrotation, flexiblen Grundrissen und dem Ende des verwandtschaftlichen Zusammenlebens. Ein Besuch in Utopia: Achter Teil der taz-Serie über die schöne neue Weltstadt Hamburg  ■ Von Heike Haarhoff

er Hamburger Alt-Bausenator Eugen Wagner will gegen das offizielle amtliche Endergebnis der gestrigen landesweiten Abstimmung zu „Wahlfamilie, Wohnort und Zusammenleben“ (WWZ, siehe Kasten) rechtliche Schritte einleiten. Es könne „gar nicht sein“, wetterte Wagner in der „Außerordentlichen Elefanten-Runde pensionierter Senatoren“, daß „niemand mit mir zusammenleben will“. Das aber ist nach Angaben der unabhängigen Stimmenauszähler sein Schicksal.

Wagner fehlen entscheidende EinwohnerInnen-Stimmen, die ihm „gute Wohn- und Sozialverträglichkeit“ bescheinigen und damit den erhofften vorzeitigen Umzug in eine andere Wohnung – außerhalb der offiziellen Rotationsphasen – ermöglichen könnten. Derzeit belegt der „Marathon-Senator des ausklingenden 20. Jahrhunderts“ (taz-Porträt vom 22.8.2007) eine Ein-Zimmer-Naßzelle (dafür aber mit Fenster!) im neunten Stock der Hochhaussiedlung Steilshoop. „Unwürdig“ fände er diese Unterbringung „für mich und meine Herkunft aus Finkenwerder“, rief er wild gestikulierend in die laufenden Fernsehkameras. Langjährige Beobachter der Hamburger Rathaus-Politik fühlten sich an Wagners rednerische Hochphase vor 15 Jahren erinnert.

Dem frustrierten Ex-Senator wird das wenig helfen: Nach dem kürzlich eingeführten Wohnungs-Rotations-Prinzip ist ein Wohnungs- und Stadtteil-Wechsel nur alle drei Jahre möglich. Wagner aber hat erst zwei von 36 Monaten in seiner Lebensabschnitts-Umgebung Steilshoop um. Diese Regelung, der wider Erwarten auch Eigenheim-BesitzerInnen mehrheitlich zugestimmt hatten, hatte Wagner von Anfang an zu bekämpfen versucht. Denn ungerecht finden sie – wie immer – nur die Unzufriedenen: Die Rotation, das bestätigt der rapide Rückgang an nachbarschaftlichen Messerstechereien, sorgt für lebendigere Wohnquartiere und weniger Sozialneid.

Denn die MieterInnenschaft wird dauernd neu zusammengewürfelt. Dadurch wird ausgeschlossen, daß sich Wohnviertel über gewisse Alters-, Bildungs- und Einkommensgruppen oder Anhänger bestimmter Wohn-/Lebensformen – wie früher – „ganz von selbst zusammenfinden“. Die Miethöhe nämlich verhält sich neuerdings proportional zum Einkommen, so daß alle MieterInnen gleich belastet sind.

Die Folge: Vorurteile und Stigmatisierung gegenüber bestimmten Gegenden verlieren an Substanz. Auch wurde der Bau häßlicher Wohn-Ghettos am Stadtrand mit Einführung der Rotations-Pflicht schlagartig eingestellt. Architekten und Planer fürchteten wohl, den Genuß der schäbigen Unterkünfte am eigenen Leib zu erfahren.

Die Gesetzesnovellierung ist als Erfolg der jahrzehntelangen Protestmärsche von Hamburgs Alleinerziehenden zu werten: Sie hatten sich über die Ungerechtigkeit beklagt, sich mit ihrem zumeist geringen Einkommen keine Wohnung in adäquater Größe (mindestens ein Zimmer pro Person plus große Gemeinschafts-Wohnküche) leisten zu können.

In allen Gebäuden sind inzwischen die Grundrisse – dank beweglicher Innenwände – flexibel gestaltbar, so daß sämtliche Lebensformen – Einzelhaushalte, Familien, Wohn- und Hausgemeinschaften – nebeneinander und wechselseitig möglich sind. Tonnenschwere Herde, Kühlschränke, Waschmaschinen und sperrige Kleiderschränke, die einst jeden Umzug zur Katastrophe oder mindestens zum Bandscheiben-Vorfall geraten ließen, gehören zum festen Bestandteil jeder Wohnung. Die Kleiderschränke allerdings sind – weil Geschmäcker bekanntlich verschieden sind – als unauffällige Einbauschränke in Tapetenfarbe in den Fluren vorgesehen.

Die Küche bildet den Wohnungsmittelpunkt und kann von mindestens zwei Zimmern betreten werden. Der Vorteil: Wer beim Einzug noch der Illusion erlag, er werde mit der miteinziehenden Person den Rest des Lebens zusammen, bzw. gar in Harmonie verbringen, muß das Domizil nicht fluchtartig verlassen, wenn es früher oder später garantiert kracht. Die Wohnung ist ja in zwei getrennte, und doch miteinander verbundene Haushalte teilbar. Begegnungen finden allenfalls in der Küche statt. Das ermöglicht auch, eventuellen Nachwuchs weiterhin gemeinsam zu erziehen. Ohne Streit über Besuchszeiten.

„Der Trend“, analysiert die Architektin Iris Neitmann das jüngste WWZ-Wahlergebnis, „geht ohnehin weg von der Kleinfamilie (2 Prozent) hin zu anderen Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens (78 Prozent; 16 Prozent bevorzugen das Singledasein bei 4 Prozent Enthaltung)“. Was in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nur als Vermutung galt, ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen: FreundInnen sind die besseren WohnpartnerInnen als Liebespaare. Der Umgang miteinander verläuft streßfreier, manchmal respektvoller, oftmals herzlicher: „Früher, als ich noch mit meinen Verwandten zusammenlebte, habe ich mich immer gefragt, warum die mir alle so fremd sind“, erinnert sich die 13jährige Kerstin. Inzwischen lebt sie in ihrer „Wahlfamilie“: Einer siebenköpfigen WG mit Leuten zwischen sechs und 73, die sich freiwillig und aufgrund gegenseitiger Sympathie zusammengefunden haben, und folglich weder miteinander verschwistert noch verschwägert sind.

„Äußerst beliebt“, so die Erfahrung von Iris Neitmann, „sind Hausgemeinschaften, in denen jeder seine Wohnung hat und trotzdem nicht anonym ist.“ Die Verantwortung für Kindererziehung, Gartenarbeit, Hausputz und – dank riesiger Gemeinschaftsräume, zu denen vor allem die leerstehenden Bürogebäude von einst umgenutzt wurden – sogar das Kochen und andere lästige Dinge werden auf mehrere Schultern verteilt.

WG-untaugliche Problemfälle, die schon neurotisch kreischen, wenn sich ein einsames Haar unbekannter Herkunft über den Badewannenrand kräuselt, gibt es bedauerlicherweise immer noch. Sie müssen sich alle paar Jahre einem „Wohnverträglichkeitstest“ unterziehen.

Damit das Zusammenleben in den Stadtteilen besser funktioniert, sind die Vermieter angehalten, im jährlichen Rhythmus Stadtteilfeste zum Kennenlernen zu organisieren. Überhaupt erfolgen Planung und Gestaltung neuer Wohnsiedlungen nur noch in direkter Zusammenarbeit mit den künftigen NutzerInnen. „Wer seine Ideen frühzeitig einbringen kann, übernimmt hinterher auch mehr Verantwortung“, weiß Stadtplaner Peter Illies. Seit Bebauungsplan-Verfahren zum festen Bestandteil des Gemeinschaftskundeunterrichts bereits in der Grundschule gehören, sind auch die Hemmungen vieler verschwunden, sich mit der angeblich komplizierten Materie auseinanderzusetzen.

Seit die dicht besiedelten innerstädtischen Viertel (u.a. Südliche Neustadt, Hammerbrook und St. Pauli) durch selbstverwaltete, öffentliche Parks begrünt wurden, seit auf den Dächern von Kauf- und Bürohäusern in den tristen Einkaufszonen Wohnungen gebaut wurden, gilt die Hamburger Innenstadt wieder als lebendiges, beliebtes Wohn- und Arbeitszentrum. „Die Landflucht hat zugenommen“, bestätigen Bevölkerungswachstums-Experten.

Lediglich der bis in die späten 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als „Geheimtip“ unter Wohnungssuchenden gehandelte Stadtteil Ottensen rangiert heute ganz unten auf der Prioritätenliste (Platz 97) der insgesamt 104 Hamburger Stadtteile. Die allabendliche Parkplatzsuche der KinobesucherInnen im erweiterten Medienkomplex „Zeise IV“ (3500 zusätzliche Filmtheaterplätze) hat die genervten AltmieterInnen auf andere Wohnquartiere ausweichen lassen.

Der listige Ex-Senator Thomas Mirow witterte prompt seine Chance: Im Zuge einer modernen Verkehrspolitik – sie wurde bekanntlich nach langer Diskussion wieder der Stadtentwicklungsbehörde unterstellt – habe er keine Bedenken, so Mirow, die verlassenen, engen Ottenser Straßen nunmehr ganzjährig als Slalom-Teststrecke für die beliebte Hanse-Rallye freizugeben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen