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Schräge Züge und schnelle Bahnen

Aufschwung beim öffentlichen Nahverkehr: Im Oktober findet erstmals die Fachmesse Innotrans am Funkturm statt. Berlin wird zum bundesdeutschen Zentrum der Verkehrsindustrie  ■ Von Hannes Koch

Neue Bewegung: Ab April 1997 gibt es eine billige Alternative zu Bus, Bahn und Taxi. Auf fünf Routen fahren dann in regelmäßigen Abständen Fahrradtaxis durch die Stadt. Die beinstarken Fahrer nehmen jeweils zwei Passagiere in einer regendichten Kabine mit. Eine Fahrt vom Tauentzien durch den Tiergarten zum Brandenburger Tor kostet nur 3,70 Mark.

Um kostendeckend zu arbeiten, richtet die Velotaxi GmbH ihre Linien zunächst entlang der touristischen Trampelpfade ein. Auf drei Speichenrädern kann man sich über den Ku'damm, zum Alex, abends über die Oranienburger Straße und durch die Bierschwemmen des Prenzlauer Berges kutschieren lassen. Die Bezeichung „Rikscha“ für seine spezialentwickelten Gefährte hört Geschäftsführer Ludger Matuszewski nicht gern: „Alles Mountainbike-High- Tech mit erstklassigen Bremsen und Differentialschaltung.“

Wer die Fahrradtaxis auf Straßenlage und Windwiderstand untersuchen will, kann dies erstmalig während der internationalen Verkehrsmesse Innotrans tun, die vom 15. bis 18. Oktober auf dem Messegelände am Funkturm stattfindet. „Eine derartige Veranstaltung gibt es bisher nirgendwo auf der Welt“, meint Lothar Ruske vom Wiesbadener Messeorganisator Miller Freeman. Im Mittelpunkt der Verkaufsschau stehen der öffentliche Nah- und Fernverkehr, wobei der Schwerpunkt bei Zügen, Bahnen und Zubehör liegt.

Etwa 180 Firmen – die meisten davon aus der Bundesrepublik – werden Produkte und Dienstleistungen rund um den öffentlichen Verkehr ausstellen. Dazu gehören eine „Mobilcard“, mit der Reisende der Zukunft alle Verkehrsmittel vom Taxi bis zum ICE bezahlen können, ebenso wie neue Fahrzeuge. So wird auf dem Außengelände des Güterbahnhofs Wilmersdorf ein 84 Meter langer S-Bahn-Zug ausgestellt, in dem man von einem Wagen zum anderen wechseln kann. Im Rahmen des begleitenden Fachkongresses verbreiten die Unternehmen ihr Credo: „Wir erleben eine Renaissance des öffentlichen Verkehrs“, schätzt Messeorganisator Ruske. „Sonst brechen die Städte unter dem Autostau zusammen.“

Nachdem der Bund und die Kommunen jahrelang eine nach der anderen Bahnstrecke stillegten, sei jetzt wieder Geld für den Aufschwung vorhanden, meint Ivo Wolz, Geschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie. Im Zuge der Regionalisierung des Schienenverkehrs stünden pro Jahr zusätzliche drei Milliarden Mark aus Bundesmitteln zur Verfügung.

„Gerade Berlin ist dabei einer der größten Einzelmärkte der Welt“, schätzt Wolfram Martinsen, Leiter der Abteilung Verkehrstechnik des Siemenskonzerns. Allein in dieser Region werden in den kommenden Jahren Milliarden in Bahnhöfe, Schienen und Züge investiert. Um Aufträge abzubekommen, wollen die Unternehmen mit ihrer Fachmesse in der Nähe des Füllhorns präsent sein. Außerdem können sie hier potentiellen Auftraggebern am praktischen Beispiel vorführen, daß die neuen Bahnen nicht quietschen. So zieht die Innotrans in diesem Jahr von Leipzig nach Berlin um, wo sie in Zukunft alle zwei Jahre stattfinden soll.

Die ManagerInnen großer Unternehmen denken heute immer weniger in der Kategorie von Regionen. Mit ihren Konkurrenten ringen sie um die weltweite Vorherrschaft bei Aufträgen und technischer Entwicklung. Die Verkehrstechnologie ist einer der wenigen Bereiche, in denen in Berlin ansässige Unternehmen im globalen Kampf um die Märkte bestehen können. Mit Siemens, ADtranz und der Deutschen Waggonbau AG (DWA) sitzen drei der sechs größten Schienenverkehrs- Konzerne an der Spree. Bei Stadt- und Fernbahnen konkurrieren sie mit dem japanischen Konglomerat aus Mitsubishi und Hitachi, dem französisch-englischen Konzern GEC-Alsthom und der kanadischen Firma Bombardier.

Gerade erst sind VertreterInnen von ADtranz, einer Gemeinschaftsfirma von Daimler-Benz und der schwedisch-schweizerischen ABB, aus der Ukraine zurückgekommen. Dort zogen sie mit Hilfe von Bundeskanzler Kohl den 220 Millionen umfassenden Entwicklungsauftrag für eine neue Elektrolok an Land. Und vor wenigen Wochen jubelten Siemens und ADtranz gleichermaßen, denn sie bekamen den 650-Millionen-Zuschlag für den U-Bahn-Bau im chinesischen Schanghai.

Die rund 3.600 Berliner ADtranz-Beschäftigten liefern so ziemlich alles, was auf Schienen rollt: moderne Regionalzüge, die sich in Kurven schräglegen, um höhere Geschwindigkeiten zu erreichen, Wagen für den Intercity, S-Bahnen und Doppeldeckerbusse. Siemens fertigt seine Straßenbahnen zwar in Nürnberg, stellt aber die Signal- und Sicherheitselektronik im Treptower Werk her. Der DWA gelingt es zunehmend, ihre alten Verkaufsverbindungen für Waggons nach Osteuropa, unter anderem Rußland und Polen, zu beleben.

So blicken die Unternehmensvorstände in eine sonnige Zukunft. Die Beschäftigten nicht unbedingt. Zur Zeit halten die Firmen des Verbandes der Bahnindustrie noch 30.000 Menschen in Lohn und Brot. „Aber der Abbau von Arbeitsplätzen geht weiter“, weiß Verbandschef Ivo Wolz. Auch bei den großen Betrieben der Branche in Berlin ist die Reduzierung der Beschäftigung nicht ausgeschlossen. Wenn das Reinickendorfer ADtranz-Werk demnächst zugunsten von Pankow aufgelöst wird, ist noch nicht klar, ob alle 550 Reinickendorfer Beschäftigten weiterhin Arbeit haben werden. Außerdem stünden einige Aufträge in Frage, befürchtet Michael Wobst, Chef des ADtranz-Betriebsrats. Weil der Senat die BVG finanziell zunehmend kurzhalte, falle möglicherweise die Bestellung von Doppeldeckerbussen ins Wasser.

Fachmesse Innotrans, 15.–18.10., Messegelände am Funkturm/Güterbahnhof Wilmersdorf. Publikumstage für Privatleute 18./19.10.

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