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Ein Provokateur auf Tour

Daniel Goldhagen stellte sich bei seinem Deutschlandbesuch in Hamburg und Berlin der Kritik an seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“  ■ Von Christian Semler

Natürlich ist es unsinnig, an Hand der Frage, wie bei uns öffentlich mit Daniel Goldhagens Buch umgegangen wird, über den Stand der politischen Kultur in Deutschland zu urteilen, von gelungener bzw. mißlingender nationaler Identität zu sprechen etc. Kann dem Schüler auch guten Gewissens das Zeugnis der Reife ausgestellt werden? Ist wirklich entscheidend, wie Goldhagen „bei uns aufgenommen wird“? Solche Töne, sie waren beispielsweise in der Zeit zu hören, verraten uns vor allem eines: Angstbesetzung.

Dennoch scheint es nützlich, einen möglichst genauen Blick auf die Diskussionsveranstaltungen zu werfen, die am Mittwoch in Hamburg und am Donnerstag in Berlin zu „Hitlers willige Vollstrecker“ stattgefunden haben. Sie unterschieden sich grundlegend im szenischen Arrangement, im Aufbau, im Charakter der Reden. Sie hatten ein gemeinsames, großes Defizit: Das Publikum blieb ausgespart.

Sorge vor unkontrollierbaren Emotionen aus dem Saal? Vor rechtsradikalen Provokationen? Der Ausschluß spontaner Diskussionsbeiträge brachte die Veranstalter um die Chance, ein Spannungsverhältnis zu thematisieren, das atmosphärisch mit den Händen greifbar war: Die Zuhörer wollten verstehen, was „ganz normale Menschen“ dazu gebracht hat, Kinder, Frauen und Greise kaltblütig zu ermorden. Es kam ihnen, davon zeugen Beifall wie Zwischenrufe, auf die subjektive Seite an, auf die Motivation. Darin trafen sie sich mit Daniel Goldhagen und seinem shift of the focus hin zu den Tätern – und zu den Opfern. Die Historiker hingegen, Hans Mommsen und Hans-Jürgen Kocka in der Berliner, vor allem Reinhard Rürup in der Hamburger Veranstaltung, beharrten auf dem Vorrang politischer Entscheidungsprozesse, auf objektiven Strukturen, auf der Vielfalt und inneren Widersprüchlichkeit der Motive, auf der „Banalität des Bösen“, die die Bediener der Mordmaschine kennzeichnete. Viele Zuschauer, das zeigte sich in Zufallsgesprächen vor und nach den Veranstaltungen, quälte die Frage, wie sie sich selbst in einer Situation verhalten würden, die Nonkonformismus und Zivilcourage verlangt.

Die Täter zählen mehr als die Strukturen

Es interessierte sie in ihrer Mehrzahl herzlich wenig, ob Goldhagen ein origineller Historiker ist, und ob seine Argumentation den Anforderungen von Kohärenz und Widerspruchsfreiheit standhält. Den größten Beifall erhielt der Politikwissenschaftler Wolfgang Wippermann in Berlin mit der Feststellung: „Der Blick auf die einzelnen Täter ist wichtiger als die Analyse der Mordmaschine.“ Solche Bedürfnisse des Publikums wohlmeinend einzugemeinden, wie Kocka es in Berlin tat, gar Goldhagen zu attestieren, er befriedige sie nach der Art von „Schindlers Liste“, empörte nicht wenige. Das Publikum reagierte hellhörig auf die Sprache der Diskutanten. In Berlin begehrte es auf, als Kocka davon sprach, wie die KZs „arbeiteten“. Es protestierte, als Mommsen die Selbstverständlichkeit aussprach, viele Mörder seien sich „über ihre Motive im unklaren gewesen“. Die Sehnsucht nach kategorialer Eindeutigkeit mischte sich mit der Forderung nach einer mitfühlenden Ausdrucksweise, die wenigstens heute vermeidet, daß die Kälte der Vernichtung, daß die Objektrolle der Opfer sich sprachlich wiederholen.

Die Hamburger Veranstaltung verlief zu harmonisch, die in Berlin der Tendenz nach zu konfrontativ. In Hamburg wurde Goldhagen allseitig konzediert, mit der Frage nach dem Antisemitismus der „Normaldeutschen“ ins Zentrum, dem Zustand der Gesellschaft zur NS-Zeit, vorgedrungen zu sein. Götz Aly, der im übrigen der einzige Diskussionsteilnehmer war, der so etwas wie persönliche Erfahrung durchschimmern ließ, bekannte provokativ, auch er verwende den Begriff „die Deutschen“ weit lieber als beschönigende Begriffsbildungen à la „NS- Regime“. Auch Hannes Heer und Jan Philipp Reemtsma stimmten Goldhagen darin zu, daß die Nazi- Machtelite sich auf einen breiten antisemitischen Konsens der Bevölkerung stützen konnte. Alle drei Historiker-Publizisten mußten von Robert Leicht, dem Moderator, förmlich zur Auseinandersetzung mit Goldhagen getragen werden. Ihre und auch Rürups Kritik stellte zwei hauptsächliche Mängel der Arbeit Goldhagens in den Vordergrund: Sein Begriff des eliminatorischen Antisemitismus sei viel zu undifferenziert und allgemein, um zu einer Beschreibung des Verhältnisses von Deutschen und deutschen Juden zu taugen. Rürup beklagte, daß ganze Stränge der deutschen Geschichte, wie der des Liberalismus und der Arbeiterbewegung, ausgeblendet würden. Hannes Heer stellte den Antisemitismus als Reaktion auf die Krise dar, die der Bildung des Nationalstaats 1871 folgte. Er interpretierte den Judenhaß auf der Folie des verlorenen Ersten Weltkriegs, wie er ihn auch in den (letzten) Versuch einordnete, nach 1933 ein Großdeutsches Reich zu errichten. Am weitesten folgte noch Reemtsma dem Autor, wenn er den Ausschluß der Juden aus dem künftigen deutschen Nationalstaat schon als Konstante des Denkens der deutschen Romantiker ausmachte.

Der zweite Hauptpunkt der Kritik betraf in Hamburg die Differenz zwischen „eliminatorischen“, antisemitischen Emotionen und der mörderischen Tat. Vernichtungsphantasien hegen viele, aber was muß hinzukommen, ehe jemand auf den Abzug drückt? So fragte Reemtsma. Götz Aly zog die Akten des Sicherheitsdienstes SD aus den Jahren nach 1942 heran, um zu beweisen, daß das NS-Regime trotz der verbreiteten antisemitischen Haltungen keineswegs sicher sein konnte, beim Massenmord an den Juden auf die Billigung oder wenigstens Duldung der Mehrheit zu stoßen. Zur Klärung dieses Problems wurden auch Klemperers Tagebücher herangezogen – kontrovers. Aly las aus ihnen sehr unterschiedliche Haltungen zu dem isolierten und bedrängten jüdischen Wissenschaftler heraus, Reemtsma betonte eher die allgemeine Stigmatisierung.

War das Klima in Hamburg von einem Übermaß an Einfühlung, ja, von einer gewissen Konfliktscheu geprägt, so ging es in Berlin umstandslos zur Sache. Und das war die Sache der Historiker. Im Kern

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lautete der Vorwurf von Mommsen wie von Kocka, Goldhagen habe sich hoffnungslos in einer Reihe von Zirkelschlüssen verfangen. Umstandslos argumentiere er, daß der Holocaust, da nun einmal von Deutschen verübt, auch seine Ursache im eliminatorischen Antisemitismus dieser Deutschen haben müsse. Deshalb seien vergleichende Analysen überflüssig, wie es letztlich auch unerheblich sei, daß nicht nur die Juden, sondern auch Sinti und Roma, Geisteskranke, die Intelligenz der slawischen Völker und natürlich die Bolschewisten, sofern man ihrer habhaft wurde, ausgerottet wurden. Das heißt, Goldhagen setze voraus, was erst bewiesen werden müsse. In gleicher Weise schließe er aus der Tatsache, daß die zum Massenmord eingesetzten Polizeibataillone, vor allem das Bataillon 101, „repräsentativ“ aus der deutschen Bevölkerung zusammengesetzt seien, zwingend, daß ihr Handeln auf das deutsche Volk insgesamt übertragen werden könnte und müßte. Goldhagen wurde mit dem resümierenden Satz zitiert: „Was diese ganz gewöhnlichen Deutschen taten, war auch von anderen, ganz gewöhnlichen Deutschen zu erwarten.“ Aber gerade eine solche Übertragung sei methodisch unzulässig, in Wirklichkeit ignoriere Goldhagen nicht nur viele der vorhandenen Quellen und Werke zur Tätermotivation, er zerre mit seiner schematischen „geistesgeschichtlichen“ Ableitung die Forschung auf den Stand der 50er Jahre zurück.

Im Historiker verbirgt sich der Soziologe

Und Goldhagen?

Erstaunlich vor allem, in welchem Ausmaß sich der Historiker als Soziologe mißverstand. In beiden Diskussionen stellte Goldhagen seine These vom „eliminatorischen Antisemitismus“ als Modell vor, mit dem Prinzip der Ausgrenzung als strukturierendem Merkmal. Bei jedem Völkermord, so Goldhagen, gäbe es ein bestimmendes Motiv. Nur der Holocaust soll keins gehabt haben. Das sei mehr als unwahrscheinlich. Seine Kritiker forderte er auf, mit einem plausiblen Gegenmodell aufzuwarten, das die Fakten integrieren könne. In Umkehrung der „Beweislast“ startete Goldhagen von geschichtlichen Situationen virulenten, ausgrenzenden Judenhasses, um dann seine Kritiker aufzufordern: „Beweist, daß sich irgendwann etwas verändert hat.“ Ähnlich soziologisch verstand Goldhagen in beiden Diskussionen das Polizeibataillon 101 als Sample im Sinn der empirischen Sozialforschung, um von seiner Repräsentativität auf das Verhalten der gesamten Bevölkerung zu schließen. Eine solche Generalisierung sei nicht nur möglich, sondern geradezu geboten. Die naheliegende Frage, wieso eigentlich der mörderische, ausgrenzende Antisemitismus nach 1945 verschwunden sei (wovon Goldhagen ausgeht), verstand der Autor nicht als methodischen Einwand. Wie er überhaupt die Kernpunkte der Kritik als Aufforderung auffaßte, noch mindestens zwei weitere Bücher zu schreiben.

Goldhagen ließ sich nicht auf seine Kritiker ein. Als ob er Textbausteine aus einem Computerprogramm einsetze, antwortete er mit wörtlich gleichen Erklärungen auf unterschiedliche Anfragen in Hamburg und Berlin. Er immunisiert sein „Modell“, daß er, wie ein Staatsanwalt agierend, im großen Indizienprozeß gegen „die normalen Deutschen“ einsetzt. Dennoch sollten wir, wie Aly es in Hamburg ausdrückte, Goldhagen dankbar sein. Er sieht sich als Provokateur und das, wie beide Veranstaltungen bewiesen haben, mit Recht.

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