■ Ein Nachschlagewerk untersucht Binsenweisheiten
: Glauben Sie doch, was Sie wollen!

Duckmäuser ducken sich nicht, Chinesen sind nicht gelber als Franzosen, Knigge wollte niemandem Tischmanieren beibringen. Mag sein. Aber ist Alkohol (in Maßen) gesund? Wurde die Bastille tatsächlich niemals erstürmt? Man ertappt sich gelegentlich selbst beim Stirnrunzeln während der Lektüre des „Lexikon der populären Irrtümer“. Daß Spinat längst nicht so gesund ist, wie unsere Eltern einst meinten, gut, das wissen wir inzwischen. Aber daß Luther niemals seine Thesen angeschlagen hat, daß Fast food so gesund ist wie ein Drei-Sterne-Menü, das gibt uns schon zu denken.

Walter Krämer und Götz Trenkler haben 500 kapitale Mißverständnisse, Vorurteile und Denkfehler zusammengetragen und in einem Lexikon aufgelistet. Der 350 Seiten dicke Schmöker ist alles in einem: amüsant und ärgerlich, lehrreich und läppisch, verblüffend und manchmal einfach nur banal. Zugegeben, man will den beiden Dortmunder Statistikprofessoren nicht alles glauben. „Ob die Kartoffel zu unserem Rinderbraten mit Kuhmist oder Chemikalien aus Ludwigshafen groß geworden ist, regt unseren Körper im Gegensatz zu unserer Seele wenig auf“, schreiben sie. Aha! Sitzen also Hunderttausende Gesundheitsapostel einem kardinalen Irrglauben auf? Ja, behaupten Krämer und Trenkler. Aber keine Sorgen. Irrtümer hingen nicht vom Intelligenzquotienten ab. Sondern? Sie überleben, „weil sie nützlich sind – zum Durchsetzen oder Kaschieren von Interessen, oder weil es bequem ist, oder weil der Pfarrer oder die Gewerkschaft es so sagt, oder weil man seine Ruhe haben will“, behaupten die Autoren in ihrem Vorwort.

Soll man der Mehrheit aller Augenärzte vertrauen?

So führt die Lektüre unweigerlich zu Selbstzweifeln. Gerade in den Bereichen Gesundheit und Ökologie fragt man sich gelegentlich, ob man also auch nur Ideologe ist, ob man Thesen vertritt, die dem eigenen Wunschdenken entspringen, wissenschaftlich aber völlig verfehlt sind. Doch die Autoren schreiben es selbst: Der einzige Schutz gegen das Irren besteht darin, überhaupt nicht nachzudenken. Und so erkennt man bei der Lektüre schnell, daß Wahrheiten nicht ewig wahr sind, daß sie im Fluß der Zeit ihr Gesicht verändern und letztlich recht manipulierbar sind. Und wenn „die Mehrheit aller Augenärzte“ behauptet, daß Lesen bei Dämmerlicht nicht schädlich ist, so glaubt man es vorsorglich lieber doch nicht.

Gewiß, Krämer und Trenkler haben gewissenhaft recherchiert. Auch wenn sie auf manche recht zweifelhafte amerikanische Studie zurückgreifen, beziehen sie sich meist doch auf durchaus seriöse Quellen, auf etymologische Lexika, auf den Brockhaus, auf wissenschaftliche Arbeiten. Und manchmal zitieren sie sich auch selbst. „Wir kurieren uns zu Tode“ heißt eine Publikation von Walter Krämer, und sie dient als Beleg dafür, daß Vorbeugen eben doch nicht billiger ist als Heilen. Denn „auch Nichtraucher müssen sterben“, und „eine per Prävention verhinderte Krankheit macht uns leider nicht unsterblich, sondern in erster Linie doch nur Platz für eine andere Krankheit“.

Spätestens hier ahnt man, daß auch die Autoren nicht ganz frei von persönlichen Ideologien sind. Doch selbst wenn manche der Thesen vermutlich ebenso seriös widerlegt werden könnte, ist das Lexikon doch die Lektüre wert. Und so glauben wir einfach, was wir glauben wollen.

Zum Beispiel, daß Sex für Sport nicht leistungshemmend ist, daß Schokolade doch nicht schlecht für die Zähne ist, daß es Unsinn ist, zu hohe Cholesterinwerte im Blut zu bekämpfen. Aber wenn uns jemand fragt, so werden wir doch wieder behaupten, daß sich Alkohol durch Kaffee vertreiben läßt und Diät dünn macht. Populäre Irrtümer? Vielleicht. Aber liebgewonnene. Adrienne Braun

Walter Krämer und Götz Trenkler: „Lexikon der populären Irrtümer“. Eichborn Verlag, 44 DM