: „Aggressiv zu sein muß gelernt sein“
■ Kampfsporttraining macht manche Frauen am Anfang so sauer auf die Männer, daß sie Gewalt regelrecht anziehen. Interview mit der Karatetrainerin Gisela Wiehe
Gisela Wiehe (35) ist Karatetrainerin beim Berliner Verein „Selbstverteidigung für Frauen“. 1993 wurde sie Karate-Vizeeuropameisterin und belegte bei den Weltmeisterschaften den fünften Platz
taz: Was ist der Unterschied zwischen Selbstverteidigung und Kampfsport?
Gisela Wiehe: Das Karatetraining ist auf viele Jahre angelegt. Man kann es sein Leben lang trainieren. Dabei ist die persönliche Entwicklung sehr wichtig. Bei der puren Selbstverteidigung setzt man sich mit dem Thema Verteidigung und Gewalt auseinander und lernt dabei einige Techniken. Dann muß man sich entscheiden: Will ich jetzt weitermachen, oder reicht es? Karate ist eine grundsätzliche, langfristige Arbeit an sich selbst; man macht es irgendwann nicht mehr, um sich zu verteidigen, sondern für sich selbst.
Wieso entschließen sich Frauen für einen Karatekurs?
Bei vielen sind es Erfahrungen mit Gewalt, bei anderen ist es Lust am Sport oder Zufall.
Und was gewinnen sie durch einen solchen Kurs?
Wachsendes Selbstbewußtsein. Das ist das Wesentliche. Vielleicht ist es in den ersten Monaten noch nicht faßbar; am Anfang gibt es einen Schub, und dann ist es eine Entwicklung dahin, sicherer zu werden, gelassener zu werden, wacher zu sein, die Dinge besser einschätzen zu können, sich nicht ständig verrückt zu machen, nicht immer Angst zu haben. So etwas hört sich vielleicht klein an, ist aber sehr wesentlich. Man geht einfach anders durch die Welt.
Gewinnt man auch ein Gefühl von körperlicher Stärke?
Auf jeden Fall.
Müssen sich Frauen erst angewöhnen, aggressiv zu sein?
Ja. Auch nach Jahren noch. Denn es ist nicht schön, aggressiv zu sein. Es ist etwas Künstliches, etwas, was gelernt werden muß. Man vergißt es leicht, noch nach Jahren im Training. Die Atmosphäre ist gut, es sind Freundschaften entstanden, und das Bedürfnis, nett zu sein, ist sehr groß, vor allem in einer Gruppe, die sich gut versteht. Wenn man eine schwächere Partnerin hat, nutzt man den Vorteil nicht aus – aus lauter Nettigkeit. Dann muß man sich erst wieder klarmachen, daß es auch der Partnerin nicht hilft, wenn man zu nett ist. Das läuft ja nicht darauf hinaus, daß man sich weh tut. Einfach zuschlagen geht nicht, man muß die Kontrolle darüber behalten – das wird ja gerade im Karate stark geübt.
Es gibt ja auch durchaus Kritik an der Selbstverteidigung für Frauen. Solche Kurse führten zu Selbstüberschätzung oder einem Auftreten, das Aggressivität erst provoziere.
Das Anziehen von Aggression kann eine Phase am Anfang sein. Wenn man sich viel mit dem Thema Selbstverteidigung und Gewalt beschäftigt, dann spürt man Gewalt viel stärker. Unterschwellige Gewalt wird einem viel bewußter, und man ist viel weniger bereit, sie zu akzeptieren. Dann kann es dazu kommen, daß eine Frau aufbegehrt. Aber das ist eine kurze Phase. Ich hatte das auch, besonders am Anfang. Ich war damals ständig auf alle Männer sauer, und das führte dazu, daß es dann auch öfter Zusammenstöße gab zum Beispiel in der U-Bahn. Das passiert jetzt überhaupt nicht mehr. Und das Wichtige und Wesentliche ist der Vorbeugenutzen, der viel mehr bedeutet als diese Zusammenstöße. Interview: Cristina Nord
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