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Kunst und andere Gegenstände

Wie die Kunst uns alle zu Kunstphilosophen macht: Ein neuer Band von Arthur C. Danto  ■ Von Michael Rutschky

Wer regelmäßig Ausstellungen moderner Kunst besucht, ist mit der folgenden Erfahrung vertraut: Du betrachtest in dem speziellen Zustand des Staunens, den solche Ausstellungen erzeugen, weshalb du sie besuchst, eine Art großen Bügel aus geschnitztem Holz, der an der Wand hängt und an der linken Seite schwarz bemalt und rechter Hand naturbelassen ist, also die Spuren der Schnitzarbeit deutlich zeigt. Dann stehst du vor einem übermannshohen Rechteck, in die Wand eingelassen und mit einer mattglänzenden Plastikfolie bezogen, das in Augenhöhe, präzise auf der Symmetrieachse des Rechtecks, der Großbuchstabe H, gefertigt aus Aluminium, ziert – für einen kurzen Augenblick weißt du nicht, daß du vor der Tür zur Herrentoilette stehst, die von dem Holzbügel eine strenge Grenze trennt, denn die Toilettentür zählt zu den Alltagsgegenständen, während der Holzbügel ein Kunstwerk von Martin Puryear ist, „Night an Day“ heißt und aus dem Jahre 1984 stammt.

Mein Onkel Kurt, selbständiger Kaufmann, pflegte die Ununterscheidbarkeit von Kunstwerken und ganz gewöhnlichen Gegenständen dahingehend zu deuten, daß mit der modernen Kunst was nicht stimme. Kunst kommt von Können, was man einem schönen Ölgemälde sogleich ansehe, während der Holzbügel vielleicht von einem Scharlatan stamme. Daß solche Scharlatane heutzutage womöglich die Kunstwelt beherrschen, verrät deren korrupten Zustand – merkwürdig berührt aber, daß mein Onkel Kurt trotzdem immer wieder Ausstellungen moderner Kunst besuchte, als müsse er sich seines Unglaubens, daß dort Kunst gezeigt werde, immer wieder versichern.

Mein Onkel Kurt verstarb 1985, überraschend, an einem Gehirnschlag. 1984 hätte ihm seine Lebensgefährtin, die solche Fragen interessierten, das Buch „Die Verklärung des Gewöhnlichen“ von einem gewissen Arthur C. Danto in die Hand drücken können, ein Buch, das die Philosophie der modernen Kunst präzise anhand der Ununterscheidbarkeit von Kunstwerk und gewöhnlichem Alltagsgegenstand betreibt, der Ununterscheidbarkeit im Sichtbaren. Das eine Mal stehst du einfach vor der Tür zur Herrentoilette, das andere Mal vor einem Kunstwerk, das haargenau wie die Tür zu einer Herrentoilette ausschaut, in Wirklichkeit aber ein Kunstwerk ist.

1996 ist von Arthur C. Danto ein neues kunstphilosophisches Buch auf deutsch erschienen, „Kunst nach dem Ende der Kunst“ betitelt; englisch heißt es „Beyond the Brillo Box“ – Jenseits des Brillo- Kartons, ein Hinweis auf Andy Warhols berühmte Ausstellung von 1964, die Danto, wie er immer wieder begeistert bekennt, die Augen öffnete – für die Unsichtbarkeit der Unterscheidung von Alltagsding und Kunstwerk – und ihn zu einer philosophischen Konstruktion der „Kunstwelt“ bewog, ein Terminus, den die einschlägigen Kreise inzwischen so selbstverständlich gebrauchen, als handele es sich um Volksmund.

Die Kunstwelt wird von den Begründungen gebildet, die ihre Teilnehmer – Künstler, Kritiker, Kuratoren, Connaisseurs – dafür liefern können, wie ein gegebenes Objekt als Kunstwerk aufzufassen sei. (Weil mein Onkel Kurt diesen Begründungen nie so richtig traute, nahm er an der Kunstwelt nur halbherzig teil: kein Wunder, daß er den meisten Kunstwerken Unglauben – ob sie überhaupt welche seien – entgegenbrachte.) Wer die unsichtbaren, gleichwohl prinzipiellen Unterschiede zwischen einer Toilettentür, die ein Kunstwerk ist, und einer normalen Toilettentür herausarbeitet, das ist letzten Endes die Philosophie.

Anders als deutsche Kunsttheoretiker, die, in der Tradition der deutschen Kunstreligion, mit leiser Stimme stets ein wenig frömmelnd über die Gegenstände sprechen, zeichnet sich Arthur C. Danto durch robusten Witz aus. Dieser Witz läßt ihn immer wieder zum Zweck seiner Argumentation Kunstwerke erfinden, die er dann mit großer Sorgfalt theoretisch durcharbeitet. In dem Buch über die „Verklärung des Gewöhnlichen“ liebte ich besonders einen Dosenöffner, der in der Kunstwelt die Gestalt einer erotischen Kleinplastik annimmt. In dem neuen Buch liest man beispielsweise von zwei afrikanischen Stämmen, die beide Töpfe wie auch Körbe produzieren, deren Machart sich nicht unterscheidet. Stamm A erkennt seine Körbe für heilig. Zitat: „Der Beweis dafür ist: Selbst Jahre nach ihrer Herstellung verströmen die Körbe unter dem sanften Regen des Berghangs, an dem der Stamm lebt, den Geruch von frischem Gras, so als trüge das Geflecht die Erinnerung an seinen Ursprung in sich – als wollten die Gräser durch die Berührung mit Wasser wieder zu ihrer jugendlichen Kraft zurückkehren, was auch die Korbleute nach ihrem Tod erhoffen.“ Töpfe dagegen rechnen zur profanen Welt – was bei dem Stamm B genau umgekehrt ist: Hier kursieren metaphorische Auslegungen der Topfbedeutungen, die mit denen der Korbbedeutungen durch Stamm A konkurrieren können, bloß daß die Topfleute die Körbe zur Prosa der Wirklichkeit statt zur Sphäre des absoluten Geistes rechnen. (Von meinem Onkel Kurt kann also behauptet werden, daß er, mit einem dieser Körbe oder Töpfe konfrontiert, unentschieden bleibt, ob er zu Stamm A oder Stamm B gehört.)

Dantos Erfindung der Topfleute und der Korbleute steht im Zusammenhang einer sehr eindrucksvollen Argumentation, weshalb auch für afrikanische Artefakte der Unterschied zwischen Kunstwerken und Alltagsgegenständen zu treffen ist. Daß Picasso eine afrikanische Maske in seine berühmten „Demoiselles d'Avignon“ von 1907 hineinmalte, verwandelt nicht alle solche Masken in Kunstwerke; es gilt, die einheimischen Begründungen zu berücksichtigen.

Was unsere einheimische Kunstwelt betrifft, so vertritt Danto die starke These, daß in ihr die Philosophie die Kunst entmündigt habe. Die Kunst im 20.Jahrhundert entwickelte sich fortlaufend als Antwort auf die philosophische Frage: Was ist Kunst? Indem die Brillo Box von Andy Warhol aber den Philosophen Arthur C. Danto zu seiner Theorie der Kunstwelt herausforderte, in der theoretische Begründungen Kunstwerke als solche erläutern, kommt dieses Kapitel Kunstgeschichte an ein Ende. Danto vertritt hier entschieden die Postmoderne und ihren Pluralismus. Kein Theodor W. Adorno – um einen einstigen Protagonisten der deutschen Kunstwelt zu bemühen – kann sein „das geht nicht mehr“ einer Malweise, Schreibweise, Musizierweise noch entgegenhalten; schon die Pop-art hat das Prinzip „anything goes“ eingeführt.

Arthur C. Dantos neues Buch über Kunstfragen verfolgt sehr viel mehr Einzelprobleme, als ich hier – meinen Onkel Kurt mit seinem faszinierten Unglauben angesichts moderner Kunst vor Augen – angedeutet habe. Danto praktiziert selbst Pluralismus. Besonders eindrucksvoll zeigt ihn dabei der Band seiner Kunstkritiken, der 1994 unter dem Titel „Reiz und Reflexion“ auf deutsch erschien. Wie ein journalistischer Kunstkritiker besuchte der Philosoph Galerien und berichtete über ihre Ausstellungen mit einem Reichtum an Einfällen, der es meinem Onkel Kurt schwergemacht hätte, an seinem Unglauben festzuhalten.

Arthur C. Danto: „Kunst nach dem Ende der Kunst“. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, 300 Seiten, 14 Abb., 48 DM

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