: Operation geglückt, Sozialstaat lädiert
■ Der Bundestag hat mit Kanzlermehrheit das sogenannte Sparpaket beschlossen. Auch Kranke stimmten für die drastischen Kürzungen
Bonn/Berlin (taz) – Freitag, der 13., und alles ging schief: Mit 341 von 672 Stimmen hat der Bundestag das sogenannte Sparpaket verabschiedet. Die Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP stimmten geschlossen den Einspruch des Bundesrats nieder und übertrafen die erforderliche „Kanzlermehrheit“ von 337 Stimmen sogar noch um vier Stimmen.
Folgende Änderungen der Sozialgesetze treten nunmehr zum 1. Oktober beziehungsweise 1. Januar in Kraft: Kürzung der Lohnfortzahlung für Kranke, Wegfall des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben bis zu zehn Personen, höhere Eigenbeteiligung bei Kuren und Medikamenten. Der Kassenzuschuß für Brillen entfällt für alle, der für Zahnersatz für jene, die nach 1979 geboren wurden. Das Rentenalter für Männer und Frauen wird bis zum Jahre 2004 schrittweise auf 65 angehoben.
Auch CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, frisch am Darm operiert, und CDU-Landwirtschaftsminister Jochen Borchert, wegen kaputter Bandscheibe eigentlich bettlägerig, stimmten eifrig mit. Das Notbett, das für Glos im Gang neben dem Plenarsaal aufgestellt worden war, blieb unbenutzt. Selbst der FDP-Dissident Burkhard Hirsch, der die Kürzung der Lohnfortzahlung für Kranke als „schweren politischen Fehler“ angeprangert hatte, hob das Händchen. Die Abstimmungsfrage habe sich „längst von Sachfragen gelöst“ und sei „zu einer Vertrauensfrage für oder gegen die Bundesregierung“ hochstilisiert worden, begründete der Umfaller sein Verhalten.
Der Abstimmung vorausgegangen war eine erregte einstündige Debatte. „Moral“, „Vertrauen“, „Solidarität“, „Verläßlichkeit“, „Opferbereitschaft“ – unablässig trieften Moralbegriffe vom Rednerpult des Hohen Hauses ins gemeine Volk, wohl um den Bruch der Regierungskoalition mit den bisher geltenden Werten der sozialen Marktwirtschaft möglichst effektiv zu kaschieren.
Es hagelte Appelle von allen Seiten. CDU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble in staatsväterlich-versöhnlichem Ton: „Lassen Sie uns doch, auch wenn wir in der Sache unterschiedlicher Meinung sind, das Ausmaß des Streites nicht überschreiten.“ SPD-Fraktionsführer Rudolf Scharping, Leidenschaft in der Kehle, das Foto eines Rollstuhlfahrers und den Brief einer schwangeren Frau in den Händen: „Ich appelliere an Sie, heute nicht zu entscheiden und ein Minimum an Anstand einzuhalten. Sie wissen nichts mehr davon, wie es den normalen Menschen in diesem Lande geht.“
Die bündnisgrüne Sprecherin Kerstin Müller, den CDU-internen Kritikern des Sparpakets, Keller, Link, Süssmuth, Eichhorn und Fell, zugewandt: „Sie alle wollten bis zum Schluß für Veränderungen bei diesen Gesetzen kämpfen. Haben Sie heute den Mut, diesen familienfeindlichen Vorhaben nicht zuzustimmen!“ PDS-Chef Gregor Gysi: „Ich appelliere an die ostdeutschen Abgeordneten: Wenn Sie nicht dagegen stimmen, verlieren Sie jede Glaubwürdigkeit im Osten!“
Nur die SPD-Rednerin Ulla Schmidt und FDP-Fraktionsboß Hermann Otto Solms kamen ohne Appelle aus. Der steife Solms, einziger Redner ohne sichtbare Emotionen, prägte dafür wirksame Werbeslogans für den Standort Deutschland: „Wenn es mir schlechtgeht, muß ich mehr arbeiten.“ Und: „Es werden zumutbare Opfer verlangt zum Wohle aller.“ Gregor Gysi darauf, mit den Armen fuchtelnd: „Welches Opfer bringen Sie denn? Oder ich?“ Die rund 24.000 Millionäre in diesem Land „ruft niemand zur Solidarität auf, das ist der eigentliche Skandal Ihres Sparpakets“.
Im Bundestag war niemand überrascht, daß die Abgeordneten der Regierungskoalition geschlossen das Sparpaket absegneten. Offenbar war dieses Vorgehen im Ältestenrat verabredet worden. Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) sprach von einem „schwarzen Freitag für den Sozialstaat“. Unisono mit ÖTV-Chef Herbert Mai und IG- Metall-Chef Klaus Zwickel warnte sie die Unternehmer davor, bestehende Tarifverträge zu mißachten. „Dann drohen Konflikte, wie sie diese Republik nicht erlebt hat“, so DAG-Sozialexperte Lutz Freitag.
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