: Wernher von Braun: ein skrupelloser Karrierist
Ein neues Buch belegt, daß der Raketenpionier persönlich Slavenarbeiter für die unterirdische Rüstungsproduktion der V2 im KZ Mittelbau-Dora aussuchte. Später in den USA propagierte er den Präventivschlag gegen die Sowjetunion ■ Von Roland Peter
Kaum eines der Nazi-Verbrechen war so geheimnisumwittert und vom Mythos verschleiert wie der Bau von Hitlers „Vergeltungswaffe“ V2, der ersten Rakete der Welt. Und kaum ein anderes hinterließ so tiefe Spuren bis in die Gegenwart hinein. Im Mittelpunkt der Komplizenschaft zwischen Technik und Diktatur: Raketenpionier Wernher von Braun. Rainer Eisfeld liefert in seinem kürzlich erschienen Buch „Mondsüchtig“ nun letzte Beweise für dessen Mitschuld am Tod von KZ- Häftlingen.
Der Glanz des hochgefeierten „Vaters“ der Mondlandung verblaßte spätestens 1982, als die US- Justiz einen seiner engsten Kollegen und Freunde als Spießgesellen der Nazis entlarvte: den Ingenieur und NASA-Direktor Arthur Rudolph. Dieser hatte den Einsatz von Gefangenen in der Raketenproduktion beaufsichtigt. Damit platzten die bisherigen Schutzbehauptungen der V2-Konstrukteure, die allein Heinrich Himmlers SS die Schuld an Leid und Tod der Häftlinge zugeschoben hatten. Die angebliche Trennung zwischen Technik und Arbeitseinsatz, also zwischen Gut und Böse oder technischem Genie und mörderischer SS erwies sich als Mythos. Dennoch hielten die Biographen Wernher von Brauns, wie etwa Ernst Stuhlinger und Frederic Ordway noch 1992, weiterhin an der Legende fest. Eisfeld zeigt jetzt, wie das Kartenhaus an Verschleierung durch den Fund neuer Dokumente endgültig zusammenbrach.
Zum einen entdeckte der Osnabrücker Politikprofessor bei den Vorarbeiten für sein Buch 1993 im Freiburger Militärarchiv eindeutige Beweise dafür, daß die V2- Konstrukteure selbst KZ- Häftlinge für die Arbeit in ihrem Entwicklungszentrum Peenemünde angefordert hatten. Nicht Himmler zwang also die Techniker zum Einsatz der Sklavenarbeiter – die Raketenpioniere selbst waren verantwortlich dafür. Bis Juli 1943 kamen 600 Gefangene in das neue KZ von Peenemünde, zumeist Franzosen. 2.500 hätten es insgesamt werden sollen, aber ein britischer Luftangriff auf Peenemünde machte die Pläne zunichte.
Zum zweiten verdeutlichen neue Quellen etwa aus dem Washingtoner National Archive, daß die Raketenpioniere auch am schlimmsten Verbrechen im Umfeld der V2 beteiligt waren: der Produktion im KZ Mittelbau- Dora bei Nordhausen in Thüringen. Bis April 1945 wurden etwa 60.000 Arbeitssklaven von der SS in die unterirdische Todesfabrik und ihre Außenlager eingepfercht. Jeder dritte von ihnen starb an Tuberkulose, Lungenentzündung, Diarrhoe, Erschöpfung oder wurde von SS-Wächtern erschlagen. Auch die Geheimhaltung für das Rüstungsprojekt zog Morde nach sich. „Leute, die Geheimnisse wußten, wurden mit ihren Geheimnissen begraben“, erinnerte sich ein Überlebender.
Die abgedruckten Dokumente belegen nicht nur, daß die Ingenieure nach den Zerstörungen von Peenemünde den Aufbau eines unterirdischen Werkes befürworteten. Die entscheidende Direktoren- und Technikerrunde um Wernher von Braun hatte auch klare Vorstellungen über die benötigten Arbeitskräfte: „die Belegschaft aus dem Häftlingslager“.
Wernher von Braun behauptete, im Mittelwerk nie einen Toten gesehen zu haben und nie im KZ Dora gewesen zu sein. Man kann dies glauben oder auch nicht. Dafür hatte er auf jeden Fall gute Kenntnisse vom zentralen KZ Buchenwald. Dort wählte der Raketenpionier persönlich „geeignete“ Sklavenarbeiter aus. Eisfeld: „Menschen stellten für Wernher von Braun Mittel dar zur Erreichung eines Ziels.“ Anders gesagt: Seiner Rakete opferte er bedenkenlos das Leben von Menschen. Schon Hermann Oberth, einer der theoretischen Begründer der Raumfahrt, hatte dem Ingenieur „wahnsinnigen Ehrgeiz“ zugeschrieben. Seine Karrieresucht machte Wernher von Braun nicht nur moralisch zum Verbrecher.
Eisfelds Band „Mondsüchtig“ faßt die 1995 in den USA ausgewerteten Dokumente für das deutschsprachige Publikum überzeugend zusammen. Ihr erstmaliger Abdruck im Wortlaut ermöglicht es dem Leser, die Einschätzung über die vorherige Lichtgestalt zu überprüfen und zu einem eigenen Urteil zu kommen. Der Mythos des Raketenpioniers ist am Ende.
Der Politologe macht auch deutlich, wie sehr die Entwicklung der Raumfahrt auf ihrer Zusammenarbeit mit dem Militär aufbaute. Dies ist bei der V2, die noch 1944/45 bei Abschüssen etwa auf London und Amsterdam zirka 7.000 Menschen tötete, offensichtlich. Im Hinblick auf die Arbeit Wernher von Brauns für die US- Raumfahrtbehörden NASA war dieser Hintergrund aber bislang wenig bekannt.
Eisfeld stützt sich dabei auf die Schriften des Raketentechnikers, die von den bisherigen Biographen stillschweigend übergangen wurden. 1953 verlangt Wernher von Braun, Raumstationen und Satelliten als „wirksame Atombombenträger“ zu nutzen. Ein „machtgestütztes ,Nein!‘“ müsse die Entwicklung bemannter Raumfahrzeuge beim Gegner verhindern. Letztlich fordert er damit nichts anderes, als einen „Präventivschlag“ (Eisfeld) gegen die UdSSR. Ronald Reagan war mit seinen „Star War“-Plänen im Vergleich hierzu ein Waisenknabe. Der deutsche Konstrukteur zeigte in den USA, wo er mit offenen Armen empfangen wurde, daß er immer noch dazu bereit war, seiner Karriere zuliebe alle moralische Bedenken über Bord zu werfen.
Eisfeld gelingt es, die Welt der Raketentechniker in ihr politisches Umfeld einzubetten. Er schneidet dabei alle wichtigen Themen an, macht manchmal aber auch des Guten zuviel. Ein Verzicht wäre teilweise besser gewesen, etwa beim Thema Verbrechen der Wehrmacht. Hin und wieder stößt der Leser auch auf Fehler. So datiert Eisfeld den Zwangsarbeitereinsatz auf 1942 und übersieht dabei die Verschleppung von Polen, die schon 1940 einsetzte.
Diese Punkte fallen aber wenig ins Gewicht. Insgesamt füllt Eisfelds gut lesbares Werk eine erhebliche Lücke aus. Und er wird mißtrauisch gegenüber der angeblich unpolitischen Technik, wie sie etwa heute noch in Peenemünde propagiert wird. Der dortige Plan eines Weltraumparks Wernher von Braun – er bleibt hoffentlich ein Blütentraum.
Rainer Eisfeld: „Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei.“ Rowohlt Verlag, Reinbek 1996, 224 S., Abb., 38 DM
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