: Die Obsession der Erinnerung
■ Heute Vortrag: Jorge Semprún - KZ-Häftling, Schriftsteller, Europäer
Schreiben ist für den spanischen Schriftsteller Jorge Semprún Erinnern. Fast alle seine Romane und Filmdrehbücher tragen unverkennbar autobiographische Züge. Zwei Obsessionen sind es, um die sie kreisen: Das KZ Buchenwald überlebt und dem Stalinismus gedient zu haben. Dieses Themenfeld steht heute abend im Mittelpunkt eines Vortrags im Institut Français.
Jorge Semprún, 1923 als Sohn großbürgerlicher Eltern in Madrid geboren, emigrierte 1939 mit dem Sieg Francos nach Frankreich. Von einem Kindermädchen lernte er Deutsch und las bald nicht nur Heine oder Goethe, sondern später auch Husserl, Heidegger, Hegel und Marx im Original.
Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris schloß er sich der Résistance an, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Er überlebte, und nach der Befreiung arbeitete er als Übersetzer in Paris. Ab 1953 koordinierte er im Auftrag der spanischen Exil-KP den Widerstand gegen das Franco-Regime und leitete ab 1957 die KP-Untergrundarbeit in Spanien. 1964 wurde er aus der KP ausgeschlossen.
Mit der Lösung von der Partei beginnt die eigentliche schriftstellerische Produktivität Semprúns. Kaum jemand hat so überzeugend über die totalitäre Erfahrung in diesem Jahrhundert geschrieben wie er. In der kunstvollen Verschränkung von Erzählung und Reflexion, von Rückblenden und Zeitsprüngen hat er die Tragödie Europas dargestellt. Die Radikalität seines Eintretens für die authentische Erinnerung und gegen das ideologische Gedächtnis machte ihn - wie Sperber, Koestler oder Giordano - zu einem Außenseiter für die orthodoxe Linke.
Semprúns Pariser Exil währte bis in die späten 80er Jahre. Von 1988 bis 1991 war er spanischer Kulturminister. Seitdem arbeitet er wieder als freier Schriftsteller.
Das wiedervereinigte Deutschland nennt Semprún, der 1994 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, „das einzige europäische Land, das sich mit den beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen kann und muß“. Er spricht zu uns aus einer Vergangenheit, die in ihren Opfern bis heute gegenwärtig ist.
Martin Rooney
Am Freitag, den 20.09.96, findet um 20 Uhr ein Vortrag über Semprún im Institut Français statt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen