: "Jeder Staat hat einen Sonderweg"
■ Warum ist gerade in Deutschland der Nationalsozialismus entstanden? Lag es am "deutschen Sonderweg", wie viele deutsche Historiker behaupten, oder ist das zu national gedacht? Fragen an den englischen His
taz: Durch das umstrittene Buch von Goldhagen ist ein Thema in der historischen Debatte wieder aktuell: der „deutsche Sonderweg“. Seit den Sechzigern wollten Historiker so erklären, wieso gerade in Deutschland der Nationalsozialismus entstand und warum die Deutschen die europäischen Juden ermordet haben. Wie stehen Sie zu diesen Überlegungen?
Eric J. Hobsbawm: Die amerikanischen Verleger haben mir ursprünglich die Druckfahnen dieses Buches geschickt und gesagt: Das ist ein wunderbares Buch, bitte schreiben Sie etwas dazu, womit wir werben können. Da habe ich mir das Buch angesehen und ihnen mitgeteilt: Ich stimme mit Ihnen nicht überein und ziehe es vor, keine Reklame für das Buch zu machen. Es ist historisch wie methodologisch ein ausgesprochen schlechtes Buch, ja, ich würde sogar sagen, es ist den Rechten behilflich, da es eine Art umgekehrten Rassismus betreibt. Ich kenne keinen einzigen Holocaust-Experten, der diesem Buch zustimmt.
Aber zum Sonderweg: Jeder Staat hat einen Sonderweg. Die Amerikaner zum Beispiel beschäftigen sich unglaublich viel mit dem Phänomen des „american exceptionalism“, des amerikanischen Sonderwegs. Die Engländer, die einmal glaubten, sie seien die klassische Form der bürgerlichen Gesellschaft, sagen jetzt sowohl von rechts als auch von links, wirtschaftlich und politisch fällt unsere Entwicklung aus dem allgemeinen Rahmen. Wenn Sie wollen, läßt sich das von jedem Land behaupten. Wenn man vom „deutschen Sonderweg“ oder irgendeinem anderen Sonderweg spricht, spricht man von Politik und nicht von Geschichte, das heißt, man versucht, gewisse Charakteristika zu erklären, die heute da sind. Im Falle des deutschen Sonderwegs versucht man zu erklären, warum es in Deutschland zum Nationalsozialismus kam und nicht anderswo. Selbstverständlich geht das aus dem Spezifikum der deutschen Geschichte hervor, aber ich will klar sagen: Wenn es nicht um dieses Problem ginge, hätte man nicht diese Theorie des deutschen Sonderwegs erfunden, an der im übrigen mehr ist, als manchmal zugegeben wird. Denken Sie nur an die obrigkeitsgelenkten Reformen. Ich habe eine gewisse Sympathie für die ursprünglichen Theoretiker des Sonderwegs, die Bielefelder Historiker, aber es stimmt auch, daß die Theorie am Anfang übertrieben wurde, denn auch in Deutschland existierte eine bürgerliche Gesellschaft wie in England oder Frankreich, wenngleich eine von den Junkern und der feudalen Aristokratie beherrschte.
Sie haben sicher gesehen, daß selbst Hans-Ulrich Wehler im neuesten Band seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte (1849 bis 1914) von einigen früheren Thesen zum Sonderweg Abstand genommen hat.
Ich glaube, daß gerade die deutsche Historiographie, soweit ich das beurteilen kann, sehr stark politisiert ist. Seit den sechziger Jahren sind deren Diskussionen zutiefst politisch, und eine der Schwächen dieser Diskussion besteht darin, daß sie sich immer spezifisch um Deutschland und die deutsche Nation dreht und nicht versucht, Deutschland in die Weltgeschichte einzufügen. Der Nationalsozialismus wird eingefügt in die deutsche Geschichte, aber eben nur in die deutsche Geschichte. Besonders seit der Vereinigung kehren die deutschen Historiker wieder zu einer national ausgerichteten Geschichtsschreibung zurück. Das scheint mir, so brennend es in der politischen Diskussion auch sein mag, historisch wenig nützlich.
Viele der vergleichenden Untersuchungen in Deutschland, die in letzter Zeit entstanden sind, wurden außerhalb der Fachkreise wenig beachtet. Ernst Nolte dagegen schon eher, und er bettet die deutsche Geschichte ja auch in einen größeren Kontext ein, indem er den Nazismus als Reaktion auf die bolschewistische Revolution und Diktatur darstellt. Der Archipel Gulag soll ursprünglicher als die Konzentrationslager gewesen sein, lautet die abseitige These.
Ich glaube kaum, daß das außerhalb Deutschlands ernstgenommen wird. Ich meine, Nolte ist ein Historiker von Klasse, aber er ist eben auch zutiefst Propagandist. Sein ganzes historisches Werk scheint mir durch Antimarxismus und durch seine tiefe Sympathie für eine gewisse Art deutschen Nationalismus und die deutsche Rechte charakterisiert zu sein. Sogar François Furet, der mit dem Antimarxismus sympathisiert, nimmt Abstand von der Seite Noltes, die sich auf die Ehrenrettung der deutschen Rechten bezieht. Und das mit dem Gulag stimmt einfach nicht.
Furet scheint mir Nolte doch näherzustehen, als Sie es konzedieren. Welche Verbindung sehen Sie zwischen dem Bolschewismus und dem Nationalsozialismus?
Nun, es stimmt allerdings, daß die Staaten und vor allem die politische Rechte auf die russische Revolution reagiert haben – oder allgemeiner sagt: auf den ungeheuren Aufstieg der Arbeiterbewegung. Das ist eines der großen Probleme der Zwischenkriegszeit. Damit müssen sich vor allem die Regierungen auseinandersetzen, in deren Ländern die neue Arbeiterbewegung eine politisch-revolutionäre Richtung annimmt. Am Ende des Krieges findet nicht nur die Revolution in Rußland statt, sondern es entsteht eine revolutionäre Gärung unter den Arbeitern in fast allen Ländern, zumal die Arbeiterbewegung gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen ist. Damit mußten sich die Regierenden auseinandersetzen. In den Ländern mit verhältnismäßig starker demokratischer Struktur oder liberalen Traditionen versuchte man es dadurch zu tun, daß man die neuen Bewegungen in die Politik einbezog oder sie sogar staatstragend machte. Die Mehrheit der Arbeiterbewegungen wurde zu staatserhaltenden Bewegungen, aber nur in den Staaten, in denen die herrschenden Klassen eigentlich keine Angst hatten, zum Beispiel in stabilen Gesellschaften wie in England, Frankreich oder in Skandinavien. In England ließ man Anfang der 20er Jahre bewußt die Labour Party ans Ruder kommen. Die Lage war anders in den Verliererstaaten, wo man Angst hatte vor einem Ausgleiten dieser Bewegungen, vor allem in Italien und Deutschland. Schließlich war Deutschland einer der wenigen Staaten, in dem mit den Kommunisten eine verhältnismäßig große revolutionäre Partei weiterbestand. Obwohl, wie ich denke, keine wirklich revolutionäre Chance bestand, polarisierte sich die Diskussion. Daß in Deutschland keine Revolution stattfand und keine Basis für die neue demokratische Regierung bestand, machte das Regime besonders anfällig. Daher scheint mir ziemlich klar, daß starke Bewegungen entstanden, die gegen Sozialismus und Kommunismus gerichtet waren, und zwar weit mehr als anderswo. Das wirklich Interessante daran erscheint mir die Frage, ob der Nationalsozialismus zu vermeiden gewesen wäre. Schließlich sah es noch 1928 so aus, als ob der Nationalismus eine Minderheitstendenz bleiben würde. Es ist mehr die Verbindung von der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise als ein jahrhundertealter Sonderweg, die den Sieg des Nationalsozialismus erklärt.
Wenn man die Niederlage im Ersten Weltkrieg, das Verdikt von Versailles und die Wirtschaftskrise sieht und gewisse Aspekte des deutschen Sonderweges annimmt, wie etwa die mangelnde Basis für eine Demokratie, spricht das doch eher dagegen, daß man zu der Zeit, als der Nationalsozialismus stark wurde, auf die bolschewistische Revolution fixiert gewesen sei.
Ich meine, alle Regierungen waren auf die bolschewistische Revolution fixiert. Der englische Geheimdienst zum Beispiel hat sich bis Mitte der dreißiger Jahre um nichts anderes gekümmert. Er war gänzlich gegen die Kommunisten gerichtet, obwohl die in England ja ohne große Bedeutung waren. Erst Mitte bis Ende der dreißiger Jahre hat man sich Sorgen um die Deutschen gemacht. Das findet man auch in anderen Ländern so, mehr bei den Militärs und den Geheimdienstlern als bei den Politikern. Dem Nationalsozialismus fiel es leicht, sich mit Antikommunismus bei den Bürgern eine gewisse Anhängerschaft zu sichern.
Gewisse Forscher in Deutschland schreiben mittlerweile eine Intentionsgeschichte, die Hitler im Glorienschein seiner „guten Absichten“ erstrahlen läßt.
Wichtig ist doch nicht, was Hitler wollte, sondern wie es dazu kam, daß er Deutschland übernehmen konnte. Es gibt sicher vergleichbare Leute auf der äußersten Rechten, mit denen sich niemand beschäftigt, weil sie nichts erreicht haben. Für uns Nichtdeutsche ist außerdem wichtig, daß Hitler in Deutschland an die Macht kam. Das gab dem Faschismus eine ganz andere Bedeutung, weil er in einer der Großmächte an die Macht kam. Wenn er bloß in Italien geblieben wäre, hätte er nur ein paar kleinere nationale Bewegungen beeinflußt wie Vladimir Jabotinsky und die Likud-Leute, die von Mussolini inspiriert wurden.
In Ihrem Buch haben Sie sehr pointiert geschrieben, daß die liberalen und demokratischen Staaten sich nur vor dem Hintergrund des Bolschewismus nicht zu autoritären Systemen entwickelt hätten.
Ich glaube, daß der Bolschewismus und die Gefahr der Radikalisierung der Arbeiterbewegung wichtige Faktoren waren, um die liberalen Regierungen zur Reform zu bewegen. Sehen Sie nur einen Mann wie John Maynard Keynes an, der in der Liberalen Partei und nicht einmal bei Labour war. Er sagte sich: Ich bin Bildungsbürger, ein Liberaler, ich möchte die bürgerliche Gesellschaft retten. Das muß man dadurch tun, daß man die kapitalistische Gesellschaft so verändert, daß sie lebensfähig bleibt, also indem man von den Sozialisten die Wirtschaftslenkung als Management der Gesellschaft übernimmt. Ich glaube, es ist wichtig, festzustellen, daß von Anfang an die Ultraliberalen, die Vorfahren der heutigen Neoliberalen, sich gegen Keynes' Reformen stemmten, weil sie nicht an die Reform des Kapitalismus glaubten. Sie nahmen an, daß das zwangsläufig zum Sozialismus führen würde. Friedrich von Hayeks Buch „The Road to Sertdom“, 1944 veröffentlicht, wurde ursprünglich 1934/35 gegen Keynes geschrieben – als Manifest dagegen, daß die Weltkrise durch Regierungsintervention bekämpft würde. Hayek glaubte, daß Keynes zu weit geht, so weit, daß er bald im Sozialismus landet. Diese Ultraliberalen verweigerten sich jeder Reform, im Unterschied zu den Amerikanern, die zu den ersten Anhängern von Keynes wurden. Die Engländer zogen erst nach dem Krieg nach. Die Anhänger der freien Marktwirtschaft wurden damals vollkommen marginalisiert. Interview: Daniel Haufler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen