: Die Uhr läuft für bosnische Flüchtlinge
Während Niedersachsens Innenminister verspricht, niemanden vor dem Frühjahr abzuschieben, schicken lokale Behörden Ausweisungsanordnungen auch an Massakerüberlebende ■ Aus Hannover Jürgen Voges
In Niedersachsen klaffen die Äußerungen von Gerhard Glogowski (SPD) über die Rückführung bosnischer Flüchtlinge und die tatsächlichen Abschiebevorbereitungen der Ausländerbehörden offenbar auseinander. Landesinnenminister Glogowski versicherte gestern in Hannover, daß auch in Niedersachsen vor dem kommenden Frühjahr keine Flüchtlinge nach Bosnien abgeschoben würden.
Der Vorsitzende der Gesellschaft für bedrohte Völker, Tilman Zülch, warf dem Minister daraufhin vor, mit seinen Abschiebevorbereitungen gar noch über die Beschlüsse der Bonner Innenministerkonferenz hinauszugehen. Allein in Stadt und Landkreis Göttingen seien in den letzten Tagen um 200 Flüchtlinge aus Bosnien amtlich aufgefordert worden, die Bundesrepublik bis Ende des Jahres zu verlassen. Von der amtlichen Abschiebeandrohung sind laut Zülch auch Flüchtlinge aus Srebrenica, Überlebende der Massaker, Vergewaltigungsopfer und zahlreiche andere Opfer schwerster Verfolgung betroffen.
Im Bürgerkrieg traumatisierten Flüchtlingen hatten die Länderinnenminister schon in ihren ersten Beschlüssen zur „zwangsweisen Rückführung“ ein längeres Bleiberecht garantiert. Sie sollten als letzte Gruppe der bosnischen Flüchtlinge abgeschoben werden.
Glogowski sicherte der Gesellschaft für bedrohte Völker auf die Vorwürfe hin gestern zu, „sich um diese Einzelfälle persönlich zu kümmern“. Der Minister merkte allerdings an, daß sein Haus nicht die für den Vollzug von Abschiebungen zuständige Ausländerbehörde sei. Nach einem gestern von Glogowski im Landeskabinett vorgestellten Erlaß sollen die niedersächsischen Ausländerbehörden nun alle bosnischen Flüchtlinge zur Ausreise auffordern, die ohne Kinder geflohen sind und nicht aus dem serbischen Landesteil stammen. Die entsprechenden Bescheide sollen Abschiebungen ab Januar nächsten Jahres androhen. Da Rechtsmittel dagegen möglich sind, rechnet Glogowski mit den ersten Abschiebungen erst im März nächsten Jahres.
Allerdings gibt es in Niedersachsen auch Bosnier, die aufgrund älterer Bescheide schon sofort ausreisepflichtig sind. Deren Zahl ist Glogowski allerdings „nicht bekannt“. Abschieben will der Landesinnenminister keineswegs nur Flüchtlinge, deren Herkunftsorte einigermaßen sicher sind. „Die Illusion des Dayton-Abkommens, daß sich die ethnischen Säuberungen rückgängig machen lassen, habe ich nicht“, sagte Glogowski gestern. Die Gesellschaft für bedrohte Völker warf ihm denn auch eine Mißachtung dieses Abkommens vor.
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