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Tödliche Eskalation in Palästina

■ Nach hundert Tagen Netanjahu erbitterte Gefechte zwischen palästinensischen Polizisten und israelischen Soldaten. Autonomiegebiete im Ausnahmezustand. Treffen Arafat–Netanjahu noch für gestern abend vorgesehen

Jerusalem (dpa/AFP) – „Es herrscht ein Bild wie im Krieg.“ So kommentierte der israelische Armeerundfunk gestern die andauernden erbitterten Feuergefechte zwischen palästinensischen Polizisten und israelischen Soldaten in den Autonomiegebieten. Die Zahl der Toten und Verletzten stieg stündlich; bei Redaktionsschluß hatten die schwersten Unruhen seit dem Osloer Friedensabkommen im Jahr 1993 das Leben von 37 Palästinensern und zehn Israelis gefordert. Die Zahl der Verletzten geht in die Hunderte.

Als Reaktion auf die Eskalation, die durch palästinensische Proteste gegen die Eröffnung eines antiken Tunnels in Ost- Jerusalem ausgelöst worden war, verhängte der israelische Verteidigungsminister Jitzhak Mordechai gestern mittag den Ausnahmezustand über alle palästinensischen Gebiete. Die Armee wurde aufgefordert, jeden Widerstand mit Gewalt zu brechen. Am Nachmittag gab es Hinweise, daß die israelische Armee einen Wiedereinmarsch in einige palästinensische Gebiete in Erwägung zieht. An der Grenze der autonom verwalteten Stadt Ramallah wurden Panzer zusammengezogen. Generalstabschef Amnon Lipkin Shahak sagte auf die Frage nach einem Einmarsch: „Wir denken darüber nach.“

Zur Beruhigung der Lage hatte der PLO-Chef am Nachmittag über den Rundfunk alle bewaffneten Kräfte der Palästinenser aufgerufen, das Feuer einzustellen, sie sollten nur noch dann schießen, wenn sie direkt angegriffen würden. Der Aufruf erfolgte unmittelbar nachdem Israel den Ausnahmezustand verhängt hatte. Israelischen Angaben zufolge erwägen Arafat und Ministerpräsident Netanjahu ein Treffen, um die schweren Unruhen zu beenden. Netanjahu, der Arafat von Bonn aus anrief, verkürzte seinen Deutschlandbesuch. Er wurde am Abend in Jerusalem erwartet, um eine Krisensitzung des Kabinetts zu leiten. Während des Rückflugs setzte er sich nochmals mit Arafat in Verbindung und bat um ein Treffen.

In den Autonomiegebieten nahmen gestern die militanten Proteste und Schießereien zu. In Nablus besetzten palästinensische Polizisten am Nachmittag eine kleine israelische Enklave beim Josephsgrab und zündeten eine jüdische Religionsschule an. Zehn Soldaten wurden in dem Gebäude eingeschlossen. Israelische Panzerfahrzeuge versuchten die zehn Soldaten freizukämpfen. Erbitterte Gefechte spielten sich auch an mehreren Orten des Gaza-Streifens ab. Vor allem am Eres-Kontrollpunkt und in der Nähe der jüdischen Siedlungen Netzarim, Newe Dekalim, Kfar Darom und Nisanit kam es zu heftigen Schußwechseln. Bei Nisanit entfesselten Hunderte von Palästinenserpolizisten am Morgen ein Gefecht, in dessen Verlauf die Siedlung von den Israelis evakuiert wurde. Die Kämpfe wurden auf beiden Seiten mit äußerster Härte geführt.

In über einem Dutzend Städten und Dörfern des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens wurde das israelische Militär mit Steinen, Molotowcocktails und anderen Wurfgeschossen angegriffen. Tagesthema Seite 3

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