: Züge sind Drogen
Für den amerikanischen Schriftsteller Paul Theroux ist Reisen ein kreativer Akt. Er sucht das Alltägliche, notiert es im Vorbeigehen ■ Von Stefan Kieß
In Boston steigt ein Mann in die U-Bahn. Es ist ein klirrend kalter Wintermorgen im Nordosten der USA 1978. Seine Nachbarn im Waggon haben es nicht weit, sie fahren zur Arbeit oder zum Einkaufen. Der Mann jedoch hat anderes im Sinn, er will die Kälte und die Schneestürme hinter sich lassen. Sein Ziel ist Patagonien am unteren Ende von Südamerika.
Reisen ohne Ziel im Kopf
Mit dem Flugzeug wären es nur ein paar Stunden, doch er nimmt sich vor, ausschließlich die Eisenbahn zu benutzen. Als er Monate später in Patagonien ankommt, ist er dutzendemal umgestiegen, hat Regionalzüge, Schnellzüge und Bummelzüge benutzt, hat viel gesehen und genügend erlebt, um darüber ein großes Reisebuch zu schreiben: „Der alte Patagonien-Expreß“.
Der Mann heißt Paul Theroux und ist bis heute seiner Leidenschaft, dem bedächtigen Reisen, treu geblieben. Der amerikanische Romanautor und Reiseschriftsteller ist seit drei Jahrzehnten unterwegs und hat auf allen Kontinenten gelebt. Unterwegssein ist für Theroux immer eine Art Flucht: „Ich ziehe es vor, ohne ein bestimmtes Ziel im Kopf zu reisen. Ich bin für die reinste Form des Reisens, eine Kombination aus Flucht und Anregung. Ich liebe es, Züge zu besteigen, und ich hasse es, sie wieder zu verlassen. Züge sind Drogen, im besten Sinne. Und Zugreisen bedeuten ,Travelling‘, nämlich echtes Reisen. Flüge dagegen bedeuten nur Transfer oder Transport. Bei einem Flugtransfer fängt die Reise erst nach der Ankunft an.“
Und so beginnt Theroux' Erzählung mit der Abfahrt von seinem Wohnort und endet mit der Ankunft dort, wo die Schienen aufhören. Für ihn ist tatsächlich der Weg das Ziel: Theroux widmet zweiundzwanzig Zügen und Teilstrecken je ein Kapitel, bis er die zwei amerikanischen Kontinente der Länge nach durchfahren hat und ganz im Süden ankommt.
Solche Fahrten um den halben Globus sind eine Spezialität des erfolgreichen Autors. Theroux' Bücher über lange Touren durch Europa, Indien, China, Vietnam, Rußland und Japan gelten als Klassiker der Reiseliteratur. Was das Reisen mit der Eisenbahn für ihn so angenehm macht, ist die große Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit. Man kann anonym bleiben oder Bekanntschaften schließen. Eine Zugreise bietet ein Maximum an Gelegenheiten bei einem Minimum an Risiko. Paul Theroux wundert sich, wenn man ihm erzählt, Bahnreisen seien langweilig. „Auf einer Reise von Rhodesien nach Sambia war ich Zeuge, wie sich ein Südafrikaner und eine Engländerin im Zug kennenlernten, näherkamen und schließlich noch vor dem Zielbahnhof verlobten. Im Orient-Expreß hatte sich schon sehr bald der italienische Krebsspezialist mit dem belgischen Mädchen in einem Abteil verbarrikadiert. Im Van-Gölü-Expreß kopulierten Hippies stehend in den Waschräumen bei angelehnten Türen. Im Teheran-Expreß hielten ein paar Australier in unserem Abteil eine Zeremonie ab, die mit einem Aboriginal-Ritual endete. Und im Transsibirien- Expreß reisten zwei Russen mit mir, ein Sohn mit seinem todkranken Vater. Der Sohn trank Champagner und betrachtete die verschneiten Wälder, während sein Vater starb.“
Bisher sind über dreißig Bücher von Paul Theroux erschienen: Reiseberichte, Kurzgeschichten, Essays und Romane, viele davon sind Bestseller. Einige seiner erfolgreichen Romane wurden verfilmt, zum Beispiel „Mosquito-Küste“ mit Harrison Ford als zivilisationsmüden Erfinder.
Theroux ist ein wahrer Freidenker
Über den Zusammenhang zwischen Reisebüchern und Romanen meint Theroux: „Dem Romanschreiben am nächsten kommt die Reise durch ein fremdes Land. Reisen ist ein kreativer Akt. Die Entdeckungen, die ein Reisender am hellichten Tag macht, gleichen denen, die auch den zurückgezogenen Romanschriftsteller begeistern und bestärken. Es ist unglücklich, schon am Anfang zuviel zu wissen. Langeweile überkommt den Reisenden, der seine Route zu gut kennt ebenso rasch wie den Romanschreiber, der seine Handlung zu sehr festlegt.“ Paul Theroux ist immer unterwegs, ob er Romane schreibt oder in die Ferne reist, ob er Bekannte trifft oder Fremde. Und er ist ein aufmerksamer Beobachter, neugierig auf Landschaften, Orte und Menschen. Sensibel nimmt er die eigene Reaktion auf neue Situationen wahr und protokolliert sie. Er nimmt alles in Augenschein, aber er wertet auch aus, was er erfahren hat. Theroux ist ein wahrer Freidenker: Er setzt sich einem Prozeß aus, dem Schauen, Denken und Fahren, und das Erlebnis teilt er unaufgeregt mit.
Anfang der neunziger Jahre bricht Paul Theroux nach Melanesien auf, in die „Schwarzen Inseln in der Südsee“. Seine Erlebnisse verarbeitet er in „Die glücklichen Inseln Ozeaniens“.
Er bringt dem Leser in diesem umfangreichen Porträt die paradiesische Südsee nahe, ohne ihre Schattenseiten auszulassen.
Anders als der englische Schriftsteller Bruce Chatwin (gemeinsames Buch: „Wiedersehen mit Patagonien“) zieht Paul Theroux nicht aus, um das Besondere und Kostbare zu finden. Er sucht eher das Alltägliche. Er findet und notiert es im Vorbeigehen, beim Unterwegssein, ob zu Hause oder in exotischen Ländern. Die Besonderheiten nimmt Theroux auch wahr, aber er löst sie nicht heraus, sondern beläßt sie im Zusammenhang. Die Reise und ihre Erzählung wird zu einem ruhig fließenden Strom. Theroux verkörpert den pragmatischen Amerikaner unterwegs: freundlich, ruhig und selbstbewußt. Als sensibler Beobachter ist er Neuem gegenüber aufgeschlossen, aber nie aufgeregt oder fassungslos.
Soeben ist sein jüngstes Buch auf deutsch erschienen. Wieder ist es eine große Fahrt, aber für Europäer keine allzu exotische Region: Theroux wandelt „An den Gestaden des Mittelmeeres“. Anfang und Ende der Reise markieren die „Säulen des Herakles“, die als mächtige Felsmassive die spanisch-afrikanische Meerenge begrenzen. „Mein Gedanke war, in Gibraltar zu beginnen und nach Spanien zu fahren, immer weiter der Küste entlang und am Boden, ohne zu fliegen. Eine Reise per Zug, Bus, Fähre und Schiff, um einmal das Meer zu umfahren: vom Felsen von Gibraltar den langen Weg bis nach Ceuta, von einer Säule des Herakles zur anderen.“
Literarisch gut vorbereitet und politisch informiert läßt der Autor sich auf das mediterrane Abenteuer ein. Der pragmatische Amerikaner ist wieder unterwegs, und was er sieht und erlebt, bietet dem Leser ein erfrischendes und authentisches Bild der südlichen Länder und ihrer Bewohner.
Theroux' Blick ist nicht verstellt durch die täglichen Krisenberichte der Massenmedien. Ohne Kriegstourist zu sein, fährt er durch Ex- Jugoslawien und ist entsetzt über die zerschossenen Gebäude und die Not der Menschen, ebenso über die Dritte-Welt-Verhältnisse in Albanien. Istanbul und die Türkei begeistern Theroux als Vorposten des Orients. Er besucht die griechischen Inseln, Syrien und Israel. In Ägypten trifft er den Schriftsteller Nagib Mahfus.
„Die meiste Zeit während der Reise hatte ich keine Ahnung, wohin ich ging. Ich wußte nicht einmal, warum. Ich war kein Historiker und kein Geograf. Ich haßte Politik. Am besten gefiel es mir, über Raum und Zeit zu verfügen. Morgens aufzustehen und zu einem Ziel aufzubrechen, das ich jederzeit ändern konnte, wenn mir ein anderes besser gefiel. Ich hatte keine Aufgabe, und ich wollte keine. Ich war aufgebrochen, um am Mittelmeer zu sein ohne ein festes Programm. Ich schrieb kein Buch – ich lebte mein Leben, und ich hatte einen angenehmen Weg dafür gefunden.“
Bücher von Paul Theroux:
„An den Gestaden des Mittelmeeres“, 1996, 616 Seiten, gebunden, ca. 58DM, aus dem Amerikanischen von Erica Ruetz, Hoffmann und Campe
„Der alte Patagonien-Expreß“. Verlag Hoffman und Campe, 1995, 514 Seiten, 48DM
„Die glücklichen Inseln Ozeaniens. Erlebnisse und Betrachtungen eines Pazifikpaddlers“. Verlag Hoffmann und Campe, 1993, 720 Seiten, 58DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen