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Schlägerballette im Cheerleader-Takt

■ Strawinsky radikal rasselnd in die Gegenwart geholt: Peter Sellars inszeniert „The Rake's Progress“ in Paris. Wo Leichtverdauliches war, soll Ironie werden!

Den Makel herbeigeklaubter Historizität schleppt Igor Strawinskys letzte Musiktheater-Komposition seit ihrer Uraufführung 1951 mit sich. Nicht nur, daß W. H. Audens Libretto zu „The Rake's Progress“ seine Anregung aus einer Kupferstich-Serie aus dem 18.Jahrhundert von William Hogarth holte, einem Reigen über triebgeleitetes Handeln und Morbidität des damals noch jungen Bürgertums. Auch das neoklassizistische Spiel mit traditionellen Stilen und Gattungen wurde eher als amüsantes Musikrätsel aus Versatzstücken von Händel bis Verdi verstanden, ja, selbst das Abschlußsextett schien nur als Verbeugung vor Mozarts „Cosi fan tutte“-Finale genießbar.

Peter Sellars' Pariser Inszenierung holt nun den Dreiakter radikal in die Gegenwart, und siehe: Seine Inszenierung von „The Rake's Progress“ als Eröffnungspremiere des Strawinsky-Zyklus ist mehr als nur zeitgemäßes Face- lifting eines Klassikers(im Pariser ChÛtelet werden im November Robert Wilson/Christoph von Dohnány „Oedipus Rex“, im Januar 1997 Stanislas Nordey/Pierre Boulez „Le Rossignol“ herausbringen). Er befreit das Sozialdrama um Aufstieg und Fall des Tom Rakewell, die „Karriere eines Wüstlings“, von seiner 18.-Jahrhundert-Situierung zwischen englischem Land- und Londoner Luxuslotterleben. Das Bühnenbild bannt das Geschehen in die Hermetik eines metallklirrenden, funktionalen US-Hochsicherheitsgefängnisses.

Die emanzipierte Welt der Geschlechter als entseelte, aber gut geölte Maschinerie: resignierte Männer in Ketten, Frauen in Wachmannschaftsuniform, knüppeldick bewaffnet. Plakativ aufgetragen ist das, doch in seiner Klischeehaftigkeit überzeugend. Schlägerballette im Cheerleader- Takt, Sehnsucht hinter Gittern.

Bei Sellars gerät die Zerstörung der Liebe zwischen der romantisch-altmodischen Ann und ihrem jungenhaft-verführbaren Tom zur Austreibung auch des letzten Gefühls, die halb lockende, halb disziplinierende Eingemeindung Toms in eine heiter-herzlose Kommerzgemeinschaft zur Krankheitsgeschichte. Aus dieser in ihrer Emotionslosigkeit gefangenen Welt gibt es für ihn nur den Entlassungsschein in die Zelle des Wahnsinns.

Sellars geht es aber um mehr als nur die geschickte und choreographisch raffinierte Zeichnung eines amerikanisch-zeitgenössischen Gesellschaftspsychogramms, in dem letztlich alle Opfer sind. Seine Inszenierung versucht über die Figur der Ann einen Gegenentwurf: Im Schulterschluß mit ihrer Konkurrentin Baba, der modernen Frauenfigur des Dramas, soll sie vergangene, scheinbar wertlos gewordene Ideale in die Gegenwart retten. Ein schlüssiges Regiekonzept und – zusammen mit Strawinskys natur- und gefühlsbeschwörendem Zitatenschatz – auch eine Rehabilitierung des Komponisten, wobei der Gegensatz von Emotion und nüchternem Bühnen-Gitterbau die ironischen Seiten der Komposition neu belebt.

Das Los Angeles Philharmonic Orchestra unter Esa-Pekka Salonen bringt mit Sellars die subtilen Verschiebungen, Verletzungen des Notentextes hervor, macht aus vermeintlich leichtverdaulichen Arien, Tarantellas, Sarabanden nervös-überdrehte Vehikel. Wenn im dritten Akt Tom Rakewell (Paul Groves) und sein mephistophelisches Alter ego, Nick Shadow (Willard White), in ihren Zellen zu einem Mozart-gleichen, nur vom Cembalo begleiteten Rezitativ ansetzen, wendet sich die Klangfolie vergangener Schönheitsideale durch Sellars' halluzinative „Choreographie macabre“ zu Bildern wahnhaften Seelenschmerzes.

Alles bleibt uneins mit sich, aber nicht in allerletzter Konsequenz trostlos: Dem im Irrsinn Verlorenen reicht die klarsichtige Trauer Anns, gegeben von der sensationellen Dawn Upshow, die Hände – während aus dem Bühnenboden ein Frühlingsblümchen wächst. Guido Fischer

Igor Strawinsky: „The Rake's Progress“. Oper in drei Akten. Libretto: Wystan Hugh Auden/Chester Kallmann; Inszenierung: Peter Sellars; musikalische Leitung: Esa- Pekka Salonen, Los Angeles Philharmonic Orchestra. Weitere Vorstellungen: 3., 7., 9., 12. Oktober

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