: Kleinbürger auf Reisen
Könnte es sein, daß das Säulensammeln dem Reisen wieder eine Bedeutung verleiht? Säulenforschung in Istanbul ■ Von Eberhard Seidel-Pielen
Istanbul zum Schnäppchenpreis. Vier Tage Istanbul, 3-Sterne- Hotel incl. Frühstück für 340 Mark. Es ist Museumszeit. Touristengruppen steuern erwartungsvoll die Hagia Sofia an. Andächtig durchmessen Besucher aus dem Westen und Schulklassen aus Istanbul die Weite des Raumes. Vor der „schwitzenden Säule“ des heiligen Gregorios Thaumaturgos eine dichtgedrängte Menschentraube. Begierig warten pensionierte Kulturreisende aus Chemnitz und junge Mädchen aus Izmir darauf, einen Finger in die feuchte Öffnung des Marmors zu legen. Wer von ihnen nun an Impotenz, wer an einem Sehfehler leidet, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Aber gegen beide Handicaps, so will es die Legende, soll die Berührung helfen.
Meine Reisebegleiterin und ich weichen der Betriebsamkeit auf die Galerie aus. Mit würdigem Schritt, ihrer kulturhistorischen Bedeutung angemessen, schlendern wir gemächlich an freigelegten byzantinischen Mosaiken vorbei. Unter Putz gelegt, überlebten die zusammengepuzzelte Gottesmutter und das segnende Christuskind das muslimische Bilderverbot während der fünfhundert Jahre dauernden Zweckentfremdung der Hagia Sofia als Moschee. Während der kontemplativen Betrachtung des Kaiserpaars Konstantin IX. Monomahos und Zoe an der Ostwand der Südempore laufen wir in einen Fotografen. Unbeirrt hält dieser weiter die Kamera ans Auge, fixiert ohne Unterlaß abwechselnd Mosaike und Säulen.
Für einen Augenblick fallen mir all die Aufnahmen ein, die ich vor 27 Jahren an gleicher Stelle konservierte. Habe ich sie mir im letzten Vierteljahrhundert jemals wieder angesehen? Das Motiv, damals den Auslöser zu betätigen? Als angehender Bildungsbürger war ich der Mission verpflichtet, mir und den Meinen Schritt für Schritt die morgen- und abendländischen Baudenkmäler zu erschließen. Hagia Sofia, soviel war klar, ist ein Kulturdenkmal. Zwar hatte ich 1969, ebensowenig wie heute, einen Schimmer, wie das Gesehene historisch, architektonisch und gesellschaftlich einzuordnen ist. Das einzige, was ich auch bei meinem fünften Besuch sehe, ist eine monumentale Kuppel – Scheitelhöhe 52,60 Meter (oooh), ein gewaltiges Gebäude (aaah), wie ich es bislang noch nicht sah. Starke Eindrücke. Sicherlich. Aber – um Himmels willen, was fange ich mit einem Foto, einem Bildausschnitt an?
Geduldig schlummern die Fotos seit Jahrzehnten tief vergraben in verstaubten Diakästen unbeachtet vor sich hin. Nicht diese Fotos mit kulturgeschichtlicher Bedeutung sind von bleibendem Gebrauchswert, sondern jene „Ich vor dem Eifelturm“, „Sie vor der Akropolis“, „Er in der Alhambra“. Die Bilder, die Veränderungen, Stimmungen, amouröse Episoden ins Gedächtnis zurückholen. Aber all die kulturgeschichtlichen Bauten, die als künstlerisch wertvoll angedachten Landschaftsaufnahmen ohne Menschen darin und davor, für mich bleiben sie immer nur ein müder Abklatsch.
All dies schießt mir binnen Sekunden durch den Kopf, als ich mich auch schon meine Reisebegleiterin fragen höre: „Was machen die Leute nur mit den ganzen Fotos, die sie von den Säulen und Mosaiken aufnehmen?“ – „Vielleicht sammeln sie Bilder von Säulen und Mosaiken.“ Schlagartig wird uns beiden klar, welche neuen Horizonte im „Sammeln von Säulen“ liegen. Könnte es sein, daß „Säulen sammeln“ dem Reisen wieder eine Bedeutung verleiht?
„Säulen sammeln“ – die Hagia Sofia verwandelt sich. Aus dem großen Ganzen bilden sich Feinstrukturen heraus, kleine Subsysteme. Da hinten das Ensemble der acht grünen Säulen, der Legende nach aus dem Artemis- Tempel in Ephesos hierher verschleppt. Wahrscheinlicher, so die gezielte Auskunft des DuMonts, wurden sie doch eigens für die Hagia Sofia hergestellt. Während des Aufenthalts im Innenraum der Hagia Sofia ist die Möglichkeit, „Säulen zu sammeln“, erst eine fixe Idee, die wir auch beim Verlassen des Gebäudes erörtern.
Auf dem Vorplatz erschleicht uns bereits eine Ahnung, welches Ordnungsprinzip im „Sammeln von Säulen“ liegt. In einem Punkt sind wir uns schnell einig: „Säulen sammeln“ macht nur Sinn, wenn es unwissenschaftlich und unsystematisch betrieben wird, entlang eigener, noch zu entwickelnder Kriterien. Aber die Vorstellung, eine selbst entworfene Säulen-Weltkarte mit den Säulen-Weltkarten von Gesinnungsgenossen auszutauschen, erscheint außerordentlich kurzweilig. Und: „Säulen sammeln“, das verspricht für einen Berliner viele, viele und vor allem aufregende Reisen.
Immer noch im Garten der Hagia Sofia. Liegende, stehende, intakte und beschädigte Säulen lassen sich berühren und umarmen. Kaum gefühlt, ertappe ich mich bereits bei Verwertungsgedanken des gerade entdeckten Hobbys: Säulenstreichelkurse in Kreta, Meditationsevents inmitten von Säulenkraftfeldern auf Samothraki, Säulenschnitzeljagden entlang der türkischen Westküste mit abschließender Vollmondparty in Ayvalik, Säulenkreuzfahrten durch die Ägäis, Vorträge über die Bedeutung der Metaphorik der Säule zehn Jahre nach Tschernobyl... Vom Sockel arbeitet sich das Auge langsam eine korinthische Säule hoch, bleibt am Säulenabschluß, am Kapitell und den Voluten hängen. Wie viele Variationen gibt es? Was ist ein Akanthus? Wie viele Benennungen für das Innenleben einer Säule? Ein weites Feld tut sich auf.
Kalter Wind dringt vom Bosporus herauf. Schweren Herzens und durchnäßt nehmen wir etwas widerwillig Abschied von der Hagia Sofia. Das nächste Ziel ist für mich als alten Istanbulfahrer klar. Der „Cisterna Basilica“, dem „Yerebatan Saray“ gilt unser Interesse. Wir steigen über Treppen in den Untergrund Istanbuls hinab, treten durch eine unscheinbare Tür auf eine kleine Plattform. Unter uns tut sich ein Paradies auf: ein weiter, halbdunkler, in seiner Tiefe nicht ganz abzuschätzender Raum. Geometrisch angeordnete Säulenfluchten unterteilen ihn. Wasser – vierzig, fünfzig Zentimeter tief – umspült die Säulensockel. Leise dahinplätschernde klassische Musik, rotes und blaues Licht ganz weit hinten im Raum verwandeln die unterirdische Basilika in einen mystischen Ort.
Nur langsam nähern wir uns dem Schatz, der offen vor uns liegt. Das Wasser läuft im Mund zusammen – 336 Säulen in zwölf Reihen tragen die Gewölbedecke. Doch langsam! Muße ist angesagt. Der Genuß soll nicht durch unnötige Eile zerstört werden. Links von der Treppe eine kleine Cafeteria. Ein in Ruhe getrunkener Nescafé auf dem Holzsteg.
Nach einer halben Stunde machen wir uns auf den Weg durch das Säulenuniversum – Tränensäulen, die Methusalemsäule, unbehauene Säulen, Glückssäulen, Pilaster, Grottenfische... Gibt es einen anderen Ort auf der Welt mit solch einer Vielzahl an Säulenschäften und Kapitellen? Die fehlerhaften Unikate aus den Steinbrüchen Prokonnesos geben eine Vorstellung der Lehrzeit in der Säulenproduktion, wie lange es dauert, die perfekte Säule zu hauen.
Es wird ein langer und ereignisreicher Tag im verregneten Istanbul. Die Schlangensäule, die Konstantinsäule...
Zurück in Berlin. Mit der geweckten und noch lange nicht gestillten Säulenleidenschaft ist die Stadt ärmer geworden. Unvermittelt packt mich nun das Reisefieber. Noch einmal die Säulen vor den Bankgebäuden in der Wallstreet aufsuchen, die Alhambra auf ihre Tauglichkeit für die Säulenkarthographie abklopfen...
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