: An die Macht wollen sie alle
■ Die Debatte um den Standort Deutschland drängt die umweltpolitischen Forderungen der Bündnisgrünen immer weiter in den Hintergrund
Um 14.33 Uhr, etwa zwei Stunden nach Beginn des Strategiekongresses der Bündnisgrünen in Hannover, sind die Zuhörer zum ersten Mal emotional gepackt. Fraktionschef Joschka Fischer sagt, genervt von seinen VorrednerInnen: „Visionen sind immer gut. Aber bis 98 sollten wir uns auf die Machtfrage konzentrieren.“ Die Menge klatscht. Aber sie klatscht auch begeistert, als Micha Brumlik, Professor aus Heidelberg, vorschlägt, „allen Ernstes über Kommunismus zu diskutieren“. Und in den Podiumssitzungen, in denen es darum geht, ob Erwerbslosigkeit schicksalhaft ist und um „die Notwendigkeit und Grenzen von Umverteilung“, klatschen sie besonders laut; wenn es eben doch um Visionen geht. An die Macht wollen sie alle, aber ob sie bereit sind, von Ideen zu lassen, die sie um die Macht bringen könnten?
Wo das grüne Herz schlägt, zeigt sich in Foren wie: „Zukunft der Arbeit – Weniger für alle statt Beschäftigung für immer weniger?“ Den Konfliktstoff präsentiert der Staatssekretär des niedersächsischen Wirtschaftsministeriums, Alfred Tacke (SPD). Seine These: Die Unternehmen lösen sich aus ihren nationalen Abhängigkeiten. Sie fertigen und forschen weltweit an den jeweils günstigsten Standorten. Für den Standort Deutschland bedeutet das: Um im weltweiten Wettbewerb einige dieser Standorte abzubekommen, müssen die Arbeitszeiten steigen, die Löhne sinken. Tacke bringt das Beispiel: Eine Ingenieurstunde in der Nachrichtentechnik kostet in Indien 35 Mark eine in Deutschland 135 Mark. Und fragt: Sind deutsche Ingenieure wirklich viermal so produktiv wie indische?
Den Gegenpart hat die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck übernommen. Sie setzt grundsätzlich an. „Das mögen zwar ökonomische Gesetze sein, aber der Mensch kommt darin nicht vor.“ Aufatmen im Publikum. Beck entwirft ein Gegenmodell: Wir brauchen einen neuen Wohlstandsbegriff. Wohlstand kann auch gewonnene Zeit bedeuten. Das muß nicht einhergehen mit vollem Lohnausgleich. Reduzierung von Einkommen bedeutet Selbstversorgung, Eigenmotivation, Nachbarschaftshilfe. Dadurch kann Geld gespart werden. Beck sagt es nicht explizit. Aber die teure Pflegeversicherung könnte wegfallen. Der Beifall ist groß. Die Zuhörer unterstützen sie. „Am produktivsten ist es, wenn man nur fünf Stunden pro Tag arbeitet“, sagt einer. Ein anderer: „Die einen arbeiten zuviel, die anderen zuwenig, das macht krank.“ Beck lobt das VW-Modell: Die Beschäftigten arbeiten weniger, bekommen weniger Geld, aber haben dafür eine Beschäftigungsgarantie. Die Abgeordnete folgert daraus für den Staat: Statt die Arbeitslosigkeit zu bezahlen, sollte lieber Arbeit subventioniert werde.
Die Umweltpolitik wird zurückgedrängt
Später wird die umweltpolitische Sprecherin Michaele Hustedt fragen: „Hat Marieluise auch erwähnt, daß die Bauwirtschaft rund um den VW-Standort zusammengebrochen ist?“ Der Grund: Die nicht mehr voll beschäftigten Arbeitnehmer bauen sich ihre Häuschen nun selbst. Die nüchterne Erkenntnis: Die schönsten Konzepte könnten an der Mentalität der Deutschen scheitern. Und kann eine Partei dagegen an, die Wahlen gewinnen will?
Auch Kerstin Müller will sich den Realitäten nicht verschließen. Es sei nun mal so, sagt die dem linken Flügel zugerechnete Fraktionssprecherin, daß sich die Leute vor allem zwei Fragen stellten: „Werde ich Arbeit haben?“ und „Wieviel Geld habe ich in der Tasche?“ Eine „7,5-Prozent-Partei“ brauche nicht zu glauben, daß sie am Mainstream vorbei nur eigene Schwerpunkte setzen könne. Also doch konventionelle Politik machen, wie die Unionsparteien, nur eben grün modifiziert?
Daniel Kreutz, Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, befürchtet, daß die Strategie zur Machterlangung, wie sie Joschka Fischer vertritt, auf Kosten urgrüner Inhalte gehen könnte. Schon jetzt zeige sich, daß die Umwelt bei den Grünen eine zunehmend geringere Rolle spiele. „Stell dir vor“, sagt Kreutz, „Rot-Grün kommt an die Regierung, und niemand merkt's.“ So wie in Nordrhein- Westfalen? Er nickt. Markus Franz, Hannover
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen